DIE ZEIT/Feuilleton, Nr.38, 10.September 1976, S.41-42 Titel: "Die Utopie in der Arena – Eine spektakuläre Debatte über die Weite des Wegs von der Philosophie in die Praxis" © 1976 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer
Die Utopie geht baden Von Dieter E. Zimmer
Unverändert war der auch vor der Erstürmung des Podiums nicht abzuhaltende Andrang, war der aufmarschierte Polizeischutz, waren Hitze und Hitzigkeit im Saal. Sonst aber hat sich offenbar einiges geändert im Land, und damit auch am Ablauf von öffentlichen Diskussionen. Schon daß diese überhaupt stattfinden konnte, ist Beweis für die veränderte Lage. Der Generalsekretär der CDU an einem Podium mit dem einflußreichsten philosophischen Inspirator der unabhängigen Neuen Linken – das wäre vor wenigen Jahren noch unvorstellbar gewesen, und wäre ein solches Rencontre doch zusammengebracht worden, so wäre es im Tumult, in gereimten Sprechchören und Resolutionen und Anträgen auf Umfunktionierung untergegangen. Aber da saßen sie am Dienstag letzter Woche im Düsseldorfer "Bildungsforum": Kurt Biedenkopf und Herbert Marcuse, mit ihnen Alexander Mitscherlich, der Psychoanalytiker aus Frankfurt, und der Münchner Politologe Kurt Sontheimer als Diskussionsleiter, und die vier Professoren mühten sich schwitzend, dem ihnen zudiktierten diffusen Thema ("Der Widerstreit zwischen philosophischer Revolution und politischer Veränderung") eine Spur von Sinn abzugewinnen. Sie hörten sich an, gingen aufeinander ein, und die etwa 1800 Zuhörer ließen sie ausreden. Der dramatischste Augenblick dieses spektakulären Treffens war vielleicht der, als ein erster Rufer ("Haarspaltereien!" rief er, Gröberes nicht) Biedenkopf unterbrach und Mitscherlich mit unvermuteter Gereiztheit wieder für Ruhe sorgte: "Was wir machen wollen, ist ein Stück öffentlichen Nachdenkens, nicht ein chaotisches Durcheinander. Ich bin zu alt, um mir das gefallen lassen zu müssen, ich lasse mich nicht erpressen!" Daß bei Schaukämpfen dieser Art das öffentliche Nachdenken nicht sehr weit oder sehr tief gehen kann, mußte allerdings Mitscherlich am empfindlichsten erfahren. Von Sontheimer befragt, ob er sich eine Gesellschaft ohne Angst wie die von Marcuse postulierte vorstellen könne, versuchte er sehr vorsichtig zu antworten: daß äußere Angstquellen wohl "einigermaßen" unter Kontrolle gebracht werden könnten, daß dann aber immer noch die inneren Angstquellen übrigblieben, die Angst in der Familie etwa, die Angst der Kinder vor den Erwachsenen; und daß die Angst, die der Mensch mit allen Lebewesen teile, auch etwas Positives habe: Sie rücke die Menschen einander näher. Nicht nur die Stimmen aus dem Publikum, auch Marcuses Reaktion ("ich habe einen körperlichen Schmerz empfunden, als ich Mitscherlichs Satz gehört habe") zeigten, wie behende und unausweichlich in der Arena-Stimmung solcher Debatten eine differenzierte These in ein klobiges Plädoyer für die Aufrechterhaltung von jederlei Angst umgelogen wird. Es war in der Welt von der "Entzauberung des Herbert Marcuse" zu lesen, die in Düsseldorf stattgefunden haben soll, von seinen unseriösen "Krawallthesen", die sich starr und blind über die Tatsachen hinwegsetzten, von den geduldig insistierenden Fragen Biedenkopfs, die schließlich das Publikum auf die andere Seite herübergelotst hätten. Da muß weitgehend der Wunsch der Vater des Gehörs gewesen sein: Schon beim Einzug der Gladiatoren zeigte sich in der Mischung von Applaus und Buhs, daß die vorgefaßten Meinungen zugunsten von Marcuse und Biedenkopf etwa gleich verteilt waren, und bei dieser Verteilung blieb es bis zum Ende. Wahr ist allerdings soviel: Herbert Marcuse, obwohl konzis und konzentriert und alles andere als ein Krawallmacher, geriet hier sehr schnell in die Defensive, und er fand ans ihr nicht mehr heraus. Eine Gesellschaft ohne entfremdete Arbeit als lebenslangem Lebensinhalt, ohne Angst, ohne Repression, ohne Elend, so argumentierte er erwartungsgemäß, sei "schon morgen" möglich, ihre Realisierung sei in den Tatsachen (dem durch die Entwicklung der Produktivkräfte geschaffenen Reichtum) angelegt; sie würde nur verhindert durch andere, nicht vom Schicksal verhängte, sondern ebenfalls von Menschen geschaffene Tatsachen: nämlich von der Tatsache, daß einige wenige ihre Vorteile von der Aufrechterhaltung des Bestehenden haben und alle ihre militärische, psychologische und ökonomische Macht aufbieten, die mögliche Befreiung der Menschheit zu verhindern. Diese Befreiung sei keine Revolution im herkömmlichen Sinn (alle bisherigen sozialistischen oder kommunistischen Revolutionen hätten die von Marx konzipierte Befreiung keineswegs mit sich gebracht), sondern eine tiefere, nämlich die Umwälzung "des Menschen als Menschen". Womit Biedenkopf konterte, war zunächst nur das immer wieder beliebte Argument: Diese Theorie sei gar nicht widerlegbar; wer nämlich Zweifel an der Möglichkeit der von Marcuse geforderten Veränderungen anmelde, setze sich von vornherein dem Verdacht aus, diese Veränderungen gar nicht zu wollen. In der Tat, diesem Verdacht setzte er sich aus, und der Verdacht könnte sogar zutreffen. Da hilft nur eins: sich dem Verdacht aussetzen und von ihm unangefochten erklären, welche Veränderungen man denn selber für wünschenswert und möglich hält, wenn man überhaupt welche für wünschenswert und möglich hält. Solchermaßen Farbe zu bekennen, blieb Biedenkopf jedoch sonderbarerweise in dieser Diskussion erspart. Nach den Wertvorstellungen, die ihn und seine Partei in der Politik leiten, wurde er nicht gefragt. Statt dessen stand das Phantom des ganz und gar neuen, des im Inneren umgewälzten Menschen im Saal, der schon morgen Wirklichkeit sein könnte, wenn nur ein ganz neuartiger, ein freiheitlicher Sozialismus von den Nutznießern der heutigen Gesellschaftsordnungen nicht länger vereitelt würde. Biedenkopf wie Sontheimer interessierten sich verständlicherweise dafür, von Marcuse Näheres zu erfahren über die gesellschaftlichen Qualitäten dieses Neuen Menschen der Neuen Welt. Marcuses Antwort war ausweichend: "Die Frage setzt natürlich voraus, daß ich ein Prophet bin oder daß Marx ein Prophet war. Außerdem möchte ich jetzt einmal sehr ernst sagen: Das dauernde Stellen dieser Frage allein dient bereits ihrer Abbiegung in die Utopie. Für mich ist es gar nicht so schwer, mir eine freie Gesellschaft vorzustellen. Es wäre eine Gesellschaft, in der die entfremdete Arbeit nicht mehr den Inhalt des Lebens ausmacht, in der genügend Zeit vorhanden ist, all die Bedürfnisse der Individuen frei zu entfalten und zu erfüllen, und in der man in der Tat nicht unter dem Druck der Angst lebt." Sozialpoesie also; in ihrer Art ist sie lebensnotwendig, denn wenn solche allgemeinen wertbesetzten Zielüberlegungen, wie es heute in Deutschland zunehmend geschieht, als bloße störende Spinnereien abgetan werden, gibt sich die Menschheit selber auf. Aber die bloße Vorspiegelung des ganz und gar Neuen reicht eben heute auch nicht mehr; heute wollen die Leute wissen, wie sie dorthin gelangen und wie es dort aussehen soll. Der Sprung an sich hat an Faszination verloren, wo die Einsicht an Boden gewann, daß bei der ganzen Anstrengung möglicherweise nicht mehr herauskäme als die Fortbewegung vom Regen in die Traufe. So war es durchaus logisch, daß Marcuse auch gefragt wurde, ob nicht mit gewissen menschlichen Konstanten zu rechnen sei, mit Eigenschaften, die zu seiner ererbten Grundausstattung gehören und sozial oder kulturell nur begrenzt modifizierbar sind. Genannt wurden: Angst, Neid, Konkurrenz. Keinerlei Sukkurs erhielt Marcuse von Mitscherlich: Er hält nichts davon für eliminierbar; er hält es für eine Realität, daß der Mensch keine Leidenschaft zur Selbstentäußerung aufbringt; er geht, "das ist meine Lebenserfahrung", davon aus, "daß man es mit einem unendlichen Leiden zu tun hat" und schon froh sein müsse, wenn man es irgendwo verringern kann; für ihn wäre schon viel erreicht, wenn der Mensch daran gehindert würde, sich weiterhin so destruktiv aufzuführen, als gefährde er damit nicht inzwischen seine Existenz. Marcuse, auch hier in der Defensive: Nie habe er das Vorhandensein solcher Konstanten geleugnet. "Das wäre ja schwachsinnig." Und die entfremdete Arbeit, in der Marcuse das Hauptmerkmal der bestehenden unfreien Gesellschaften sieht? "Ich habe nicht von der Abschaffung der entfremdeten Arbeit gesprochen, sondern daß die entfremdete Arbeit nicht den Lebensinhalt ausmachen soll. Selbst in der freiesten Welt wird entfremdete Arbeit notwendig sein, notwendig für eine lange Zeit." Von ihren praktischen Chancen ganz abgesehen: wenn der Mensch zu einem erheblichen Teil unveränderbar ist und selbst die günstigsten Verhältnisse nicht zu der völligen Befreiung führen, dann allerdings ist Marcuses Verheißung, daß die befreite Gesellschaft gleich ab morgen schon möglich sei, auch als reine Denkfigur so kaum aufrechtzuerhalten. Noch stärker ins Wackeln geriet sie in der Majoritätsfrage. Von Biedenkopf bedrängt, sich zur Frage der demokratischen Legitimation bestehender politischer Systeme zu äußern, meinte Marcuse: Ein demokratisches System gebe es noch nirgends – "der Sozialismus würde die erste Gesellschaftsform sein, in der wirklich die Mehrheit der Bevölkerung, nämlich die Abhängigen, die Politik bestimmt". Biedenkopf: "Wenn ich also frage: Welches sind denn die Grundstrukturen der Beschaffenheit dieser neuen Gesellschaft, und Sie sagen mir, es ist eine Gesellschaft, wo die Menschen wirklich mehrheitlich entscheiden – schließen Sie in einer solchen Gesellschaft eigentlich Minderheiten aus? Wenn Sie sie nicht ausschließen – wie wollen Sie sie schützen? Wenn Sie sie schützen wollen – in welchem Umfang wollen Sie sie schützen? Wenn Sie den Umfang bestimmen – wollen Sie sie auch so schützen, daß sie die theoretische Chance haben, zur Mehrheit zu werden? Wie wollen Sie diese Konflikte im konkreten Fall lösen?" Marcuses einzige Antwort auf diese Fragen: Wenn sich keine Mehrheiten für das Richtige finden (zum Beispiel zur Teilung des Reichtums mit den armen Ländern), dann sei eben etwas entschieden falsch an der Gesellschaft. Das ist nun allerdings klar: Wären die Menschen anders, wäre auch die Gesellschaft anders; und der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, sich für neue Menschen neue Gesellschaften auszudenken, Gesellschaften etwa, in der die Mehrheit freudig das Richtige tut, auch wenn es persönlichen Verzicht bedeutet. Da diese Phantasie zu keiner Realität paßt, bleibt nur der sterile Zirkel übrig: Wenn es den guten neuen Menschen nicht gibt, dann ist die Gesellschaft falsch eingerichtet; und wenn die Gesellschaft falsch eingerichtet ist, dann weil es den guten neuen Menschen noch nicht gibt. Oder: Die neue Gesellschaft unterscheidet sich von den alten durch die Herrschaft der Mehrheit; wo heute schon der Wille der Mehrheit eine Rolle spielt, entscheidet diese Mehrheit falsch; damit sie richtig entscheidet, brauchte es eine neue Gesellschaft; Hauptkennzeichen dieser neuen Gesellschaft ist die Herrschaft der Mehrheit. Mit keinem Wort konnte Marcuse seinem Auditorium aus diesen Zirkeln heraushelfen. Zwar, er hatte unbestreitbar recht, wenn er sagte: "Daß etwas noch nicht existiert, macht es weder falsch noch unsinnig." Aber daß existieren kann, was er entwirft – dafür blieb er die Erklärung schuldig, und wie es funktionieren soll, wußte er ebensowenig zu sagen. Insofern hielt ihm Biedenkopf mit einigem Recht entgegen: „Ich weiß nicht, ob man sich die Erledigung eines Begründungszwangs, wenn man eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung anstrebt, so leicht machen darf." Ganz zum Schluß noch wären die beiden so heteronomen Denkweisen doch fast miteinander in Berührung gekommen. Es war, als Marcuse eingeräumt hatte, Konkurrenz sei ein wahrscheinlich unaufhebbarer Ausdruck primärer Aggressivität – es mache aber einen gewaltigen Unterschied aus, ob sie sich destruktiv oder emanzipatorisch auslebe, zum Beispiel im Wettbewerb um die Entschmutzung der Umwelt. Da gab ihm auch Biedenkopf recht: Es sei wirklich eine politische Frage, welche Ziele man der Konkurrenz gibt. Welche Ziele er selber den Konstanten Konkurrenz, Neid und Angst geben möchte, ob er den fatalistisch hingenommenen wilden Kampf aller gegen alle will – danach wurde nicht mehr gefragt. Im spannendsten Augenblick war die Diskussionszeit abgelaufen. Was folgte, war Farce. Ein unvermeidlicher Rauschebart pries einen Räuberhauptmann, den alle liebhaben sollten. Einige Linksextreme, die schon vor der Veranstaltung auf Handzetteln nicht etwa Biedenkopf, sondern Marcuse als "Reaktionär" und "Arbeiterverräter" entlarvt hatten und offenbar teils "China", teils der "Sowjetunion" verpflichtet waren, also den Konflikt zwischen DKP und KBW um den rechten Weg in die Konfliktlosigkeit in den Saal trugen, schmetterten raschelnde Parolen: "Das Übel ist die Ausbeutung der Arbeit durch die Kapitalisten! Marx selber hat gesagt! Daß dieser Staat geschlagen werden muß! In der politischen Revolution! Im bewaffneten Aufstand!" Immer mehr Sätze gingen im Lärm unter. Die auf dein Podium nahmen ihre Jacken, standen auf und gingen.
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