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DIE ZEIT/Feuilleton, Nr. 50, 7. Dezember 1979, Seite 40

© DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

 

Wo man Bücher verfluchen lernt

Ein Lamento aus dem bedrängten Blickwinkel eines Bibliotheksbenutzers

Von Dieter E. Zimmer

Ihr die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren! Dante

WISSENSCHAFTLICHE ARBEIT ist in Deutschland eigentlich nicht möglich ... ! Jeder vernünftige Mensch wird diese Behauptung für grotesk halten. Ich meine sie ernst und will sie begründen.

Der erste Schritt jeder wissenschaftlichen Arbeit, und nicht nur jeder streng wissenschaftlichen Arbeit, sondern jeder Art von Arbeit, die sich mit irgendwelchen Geistesdingen zu schaffen macht, besteht bekanntlich darin, daß man sich mit dem vertraut macht, was andere zum gleichen Thema herausgefunden haben.

Um sich mit dem schon Entdeckten und schon Gedachten bekannt zu machen, muß man jene Bücher und Zeitschriften zu Rate ziehen, in denen es festgehalten ist und – in immer größerer Menge und immer schneller sich überholend – festgehalten wird. Nicht jeder kann von neuem das Pulver erfinden; es wäre auch Energievergeudung.

Kurz, damit wissenschaftliche Arbeit sein kann, braucht man den Zugang zum schon Geschriebenen. Man braucht ihn in der Regel innerhalb einer bestimmten Zeit. Der Professor muß sein Gutachten, der Techniker seinen Vortrag, der Student seine Seminararbeit, sogar der Journalist seinen Artikel nicht irgendwann einmal, sondern zu einem absehbaren Termin fertig haben. Müssen sie auf das schon Geschriebene warten wie Kafkas Mann vor dem Türhüter, können sie es gleich sein lassen. Schaffen unsere Bibliotheken diese Grundvoraussetzung?

Hier soll nicht etwa auf einzelne Bibliothekare oder einzelne Bibliotheken geschimpft werden. Es ist kein heiteres Los, von morgens bis abends mangelhaft ausgefüllte Zettel zu sortieren. Es fehlt an Mitteln. Es macht auch nichts, daß einzelne muffig oder ahnungslos sind; das kann vorkommen und wird wettgemacht durch den Einsatz und die Findigkeit anderer. Es geht darum, daß das ganze System mit dem Wort unzulänglich viel zu milde bezeichnet ist. Es ist eine zum Alltag gewordene und darum nicht mehr bemerkte, eine schleichende Zumutung.

Ein Beispiel. Ich will zwölf Bücher aus der Staats- und Universitätsbibliothek in Hamburg haben, die hier nur zufällig vorkommt: Jede Bibliothek hat ihre eigenen, etwas anders liegenden Macken. Bei einigen Büchern müßte ich nur kurz nachprüfen, ob sie enthalten, was ich vermute, sonst brauche ich sie nicht. Da nur ein winziger Teil der Bestände dem Leser direkt zugänglich ist, muß ich sie jedoch alle auszuleihen versuchen.

Zeit haben, Geduld üben

Die Bibliothek ist zwar auch eine Staatsbibliothek, aber davon merkt der Benutzer nichts. Sie ist zugeschnitten auf die Studenten, für die sie gleich um die Ecke liegt und von denen angenommen wird, daß sie zumindest eins unbegrenzt haben: Zeit. Außerhalb der Semesterferien wird der von weiterher kommende Benutzer, damit fängt es an, in dem ganzen Stadtviertel vergeblich nach einem Kurzparkplatz suchen. Auf dem Weg von und zu der Arbeit an der Bibliothek vorbeifahren, etwas nachsehen, bestellen, abholen: diese Möglichkeit ist nicht vorgesehen. Eine Staatsbibliothek ist nichts, was man nur en passant aufsucht. Das hat man sich als erstes zu merken.

Man handelt danach, sucht sich seine Bücher aus den verschiedenen Katalogen, in denen sie verzeichnet sein könnten, füllt die Leihscheine aus, gibt sie ab, dann geht man wieder. Denn sofort erhält man fast gar nichts. Abholen kann man die Bücher frühestens am Nachmittag oder am nächsten Morgen (falls das betreffende Buch erst aus einem Außenmagazin herbeigeholt werden muss, kann es Wochen dauern). Nicht nur ist die Staatsbibliothek nicht en passant benutzbar; den frühesten Nutzen von ihr hat der Besucher erst anläßlich seiner zweiten Reise.

Wenn er dann in der Buchausgabestelle steht, zehn oder zwanzig Leute in der Schlange vor sich und darunter eine "Neuaufnahme", die alle anderen eine Viertelstunde lang aufhält, begreift, er: In diesem System hier sind die draußen geltenden Zeitmaßstäbe außer Kraft gesetzt. Hier muß man dieselbe bei uns sonst nicht übliche Geduld haben, die zum Beispiel die Amerikaner ohne zu murren an den Schaltern ihrer Banken und Postämter ausharren läßt.

Von den gesuchten zwölf Büchern habe ich, wenn ich Glück hatte, sechs im Katalog gefunden. Jetzt ist die Frage: Wieviele sind tatsächlich da? Alle sechs, das wäre wie eine Sechs im Lotto. Daß gar keines da ist, ist auch nicht wahrscheinlich. Die vier unwichtigsten: das wäre eine gute Trefferquote. Die beiden anderen sind verliehen: Eines müßte in drei Wochen zurückgegeben werden (dann kann ich's noch einmal versuchen), eines hätte vor drei Wochen zurückgegeben werden müssen (da läßt sich leider nichts machen). "Das hat ein Professor, die haben immer eine besonders lange Leitung." Überhaupt scheint ein Teil der Bestände auf Dauer in die Handbibliotheken einzelner Professoren verpachtet und den normalen Benutzern entzogen zu sein.

Ja, ich weiß, die Moral der Benutzer ist schlecht. Sie schmieren Erstdrucke mit ihren besserwisserischen Randnotizen voll, reißen Seiten sogar aus Lexika, schneiden Artikel aus alten Zeitungen, verlieren Bücher, tränken sie mit Kaffee, halten die Rückgabefristen nicht ein, reservieren sich in frei zugänglichen Bibliotheken alle Bücher, die sie gerade lesen oder lesen sollten oder vielleicht einmal lesen sollen könnten, indem sie sie in den Regalen so umstellen, daß garantiert kein anderer Interessent sie aufspürt. Und ich gebe zu: Auch ich habe des öfteren Bücher viel zu spät zurückgegeben.

Schlechte Moral erzeugt nämlich schlechte Moral. Wenn man oft genug vergebens auf ein Buch gewartet hat, das längst hätte zurückgegeben sein müssen, trennt man sich ungern von dem, das man wunderbarerweise doch erhalten hat. Von den vier vorhandenen Büchern könnte ich sicher zwei nach kurzer Durchsicht zurückreichen; aber da ich sie nun einmal so relativ mühsam entliehen habe, nehme ich sie sicherheitshalber doch lieber mit (wer weiß, ob ich sie noch einmal zu Gesicht bekäme?) – und einem anderen prospektiven Leser möglicherweise weg. Bei den verliehenen muß ich mich notgedrungen auf das Unverläßliche verlegen, das Prinzip Hoffnung.

Die vier nicht vorhandenen – da hilft nur jene so nützliche wie schwerfällige Einrichtung, die in Anspruch zu nehmen man sich von vornherein geniert: der "auswärtige Leihverkehr". Ich fülle für jedes mit der nur dafür vorgesehenen musealen Schreibmaschine einen grünen und einen roten Zettel aus, wie ihrer am Tag hier etwa hundert abgegeben werden, und verabschiede mich wehmütig von ihnen; denn was ihnen bevorsteht, ist eine lange und vielleicht zwecklose Reise.

Zunächst wandern sie zum Signierdienst. Der sieht noch einmal im Katalog nach, denn ich könnte das gesuchte Buch ja, mit der typischen Dusseligkeit der Bibliotheksbenutzer, die leider auch eine Tatsache ist, im Katalog überblättert oder die Angaben unvollständig oder falsch abgeschrieben haben. Auch deckt sich immer wieder das, was die Benutzer auf dem grünen Schein eingetragen haben, nicht hundertprozentig mit dem, was auf dem roten steht (zum Beispiel sind manche Verlage ihrer Namen oder Orte selber nicht sicher). Diesem bedauerlichen Umstand könnte zwar durch einen Durchschreibezettel abgeholfen werden, doch in das Abenteuer einer so tiefgreifenden Revolution stürzt sich eine große Bibliothek nicht leichtfertig.

Hat der Signierdienst alles überprüft und vervollständigt, wandern die Scheine weiter in den nächsten regionalen Zentralkatalog. Der norddeutsche befindet sich hier nur zwei Etagen höher, und daß er jedem Benutzer nur zwei Anfragen am Tag beantwortet, ist auch nicht mehr wahr: Es sind inzwischen ihrer fünf. Der "ZK" trägt auf den Scheinen ein, ob das Buch in einer norddeutschen Bibliothek steht oder nicht, und wo. So bereichert, wandern die Scheine eine Etage höher in die Fernleihstelle, die eine aktive und eine passive Komponente hat: Die passive beantwortet Fragen von auswärts, die aktive verschickt Bestellungen nach auswärts.

Langsam und unberechenbar

Hier wird der "Leitweg" festgelegt. Anfragen nach ausländischen Zeitschriften gehen nach Berlin, nicht weil diese dort am ehesten zu finden sind, sondern weil dort ihr eventueller Standort am ehesten nachgewiesen werden kann. Medizinisches ist am wahrscheinlichsten aus Köln zu beschaffen, alte Manuskripte aus München, ältere Bücher generell aus der unausgebombten Universitätsbibliothek von Göttingen. Neunzehn große Bibliotheken haben Spezialgebiete, für deren besondere Pflege sie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft Geld, erhalten; fällt ein Buch eindeutig in solch einen "Sondersammelbereich", führt der Leitweg zunächst in die betreffende Bibliothek. Alle übrigen Bestellungen wandern immer weiter von der Abgabestelle weg durch die deutschen Lande und die acht Zentralkataloge. (Sie tun das auch, wenn man selber sicher ist, wo das gesuchte Werk zu finden wäre.)

Das braucht natürlich Zeit. Die Bibliothekare, die dem Benutzer tröstlich versprechen, es dauere normalerweise vier bis sechs Wochen, sagen nicht die Unwahrheit, unterschlagen aber einen wichtigen Umstand. Es soll schon vorgekommen sein, daß ein Buch aus Israel innerhalb einer Woche beschafft war, aber genauso gut kann die Entfernung Stuttgart–Hamburg ein halbes Jahr beanspruchen. Ein in Lübeck bereits nachgewiesenes und ausdrücklich als vorhanden ermitteltes Buch nach Hamburg zu schaffen, nimmt trotz regelmäßig verkehrendem "Bücherwagen" drei Wochen in Anspruch. Im Zweifelsfall dauert es eben eher lange, aber das ist nur die eine Seite: Es dauert in jedem Fall unberechenbar lange.

Nach ein bis sechs Monaten trifft entweder die Benachrichtigung ein, das Buch könne nunmehr abgeholt werden, oder der altbekannte Schein, bereichert um zahlreiche Stempel: "Nicht nachgewiesen."

Nun, da sie erst die nähere und dann die weitere Umgebung abgesucht haben, dürfen die Scheine auf die zweite, weitere Reise gehen: in die DDR. Kehren sie, mit weiteren Vermerken wie "nicht vorhanden" oder "nicht nachweisbar", nach einigen Monaten auch von dort zurück, wird ihnen ein dritter, weißer beigefügt, und alle wandern sie in ein europäisches Ausland oder in die USA. Dort wird es nun ganz ungewiß: "Manchmal klappt’s eine Zeitlang mit England, manchmal kommt überhaupt nichts zurück."

Ich habe im August 1971 an einem Tag einmal sechs Bestellungen aufgegeben; sie wanderten, in knapp einem Monat, durch die Bundesrepublik, in vieren durch die DDR, bis sie im Januar schließlich in die USA geschickt wurden. Ein Zettel traf im Mai wieder bei mir ein, mit dem Vermerk der Library of Congress in Washington, das betreffende Buch befinde sich zur Zeit in der Buchbinderei. Damit sollte mir wohl sinnreich zu verstehen gegeben werden, daß ich, da Bücher in Buchbindereien länger zu verweilen pflegen als die Post im Bauch von Transatlantikfrachtern, das Buch wahrscheinlich nicht vorfände, wenn ich auf den Gedanken käme, nun gleich nach Washington aufzubrechen – die Library of Congress verleiht nämlich grundsätzlich keine Bücher, lesen kann man sie nur dort. Ein zweiter Schein kam nach anderthalb Jahren vergeblicher erratischer Wanderschaft zurück, und bei den anderen vielen werde ich bis heute den Verdacht nicht los, sie hätten sich gar nicht auf einem ihrer Leitwege in einen Papierkorb verirrt, sondern seien immer noch unterwegs und träfen eines Tages posthum bei meinen verwunderten Nachmietern ein.

Das Tückische an der ganzen Prozedur aber ist: Trotz der langwierigen Suche kann man nie sicher sein, daß das gewünschte Buch nicht doch ein paar Straßen oder Städte weiter steht, denn die meisten öffentlichen, privaten, behördlichen und Seminarbibliotheken sind in den Zentralkatalogen gar nicht erfaßt und werden auf allen Leitwegen von vornherein übergangen. Nun gut, man kann sie ja selber absuchen, und man kann dabei ja auch berücksichtigen, dass eine soziologische Monographie vielleicht bei den Pädagogen, eine biologische Zeitschrift bei den Chemikern steht.

Aber was tut man, wenn eine Bibliothek ihre Schätze Fremden einfach nicht zu lesen geben mag? Ich habe einige nette und viele gleichgültige Seminarbibliotheken kennen gelernt, ich werde aber auch nie vergessen, wie ich einmal die glücklich entdeckten Bände einer seltenen russischen Exilzeitschrift durchzusehen versuchte. Die Bände standen ganz oben im Regal, und als Unbefugtem, als Nichtseminarmitglied traute man mir offenbar nicht zu, auf das Leiterchen zu steigen und sie selber von dort herunterzuholen, ohne ihnen schweren Schaden zuzufügen. Als mir der wachhabende Drache etwa zum zehnten Mal, jedesmal böser schnaufend, einen Jahrgang heruntergeholt hatte, sagte er: "Jetzt ist aber Schluß." Die übrigen Jahrgänge konnte ich erst durchforschen, als ich ein Institut in einer anderen Stadt entdeckt hatte, das sie ebenfalls führte und wo sie niedriger standen.

Langsam und unberechenbar: das ist auch das Tempo, in dem die Bücher bestellt, bibliographiert, gebunden und eingestellt werden. Die Mühle der sogenannten "Akzession" mahlt ruckweise und gemächlich. Hat man großes Glück, ist eine Neuerscheinung nach einem halben Jahr ausleihbereit; es kann aber durchaus auch drei Jahre dauern. Novitäten entleihen zu wollen, gilt wohl als der Wissenschaft unwürdige Neugier.

Wer einwendet, Neuerscheinungen könne man sich schließlich auch kaufen, beweist, was ausländische Bücher betrifft, nur seine Ahnungslosigkeit. Er müsste erstens reich sein; nicht jeder kann ein Buch nur auf den Verdacht hin, es könne Brauchbares enthalten, gleich käuflich erwerben. Zweitens hat er noch nie Wochen und Monate wartend zugebracht, bis das im Ausland bestellte Exemplar schließlich eintraf. Die USA liegen für die wenigen deutschen Buchhandlungen, die sich überhaupt noch die – bezahlte – Mühe, machen, Bücher im Ausland zu ordern, mindestens sechs Monate weit weg; das übrige Europa braucht die Hälfte der Zeit.

Wie es besser ginge

Der scherzhaft aufgebrachte Ton, der hier vorherrschte, heißt nicht, daß das alles nicht so schlimm sei. Er entstammt nur dem Fatalismus, den sich mit der Zeit aneignen muß, wer hierzulande dringend Bücher aus Bibliotheken braucht. Das System bedient allenfalls noch jenen altertümlichen Gelehrten, der an seiner Lebensarbeit sitzt und dem es nicht darauf ankommt, ob er ein Buch in einem Tag, einem Monat oder einem Jahr erhält. Wissenschaftliche Arbeit jedoch ist in Deutschland eigentlich nicht möglich. Der Satz kommt mir irgendwie bekannt vor.

Es gäbe Abhilfe. Die kleine: ein paar Akzelerationsexperten und gezielte neue Planstellen an den „Nadelöhren", und die Zirkulation der Leihscheine würde unwahrscheinlich beschleunigt.

Zwei denkbare große: die bibliographischen Angaben aller neuen und nach und nach auch aller alten Titel werden auf einen zentralen Datenspeicher übertragen, und in jeder Bibliothek wäre jederzeit abrufbar, ob ein gesuchtes Buch irgendwo steht und wo. Das wäre gewiß sehr teuer. Die andere (vor der der Kulturföderalismus unseres Staatswesens steht): So wie es in Frankfurter am Main eine Deutsche Bibliothek gibt, die alle deutschen Neuerscheinungen seit ihrer Gründung 1946 gesammelt hat und in der man sie, da sie Präsenzbibliothek ist und nichts ausleiht, notfalls wirklich vorfindet, müßte es eine zentrale internationale Präsenzbibliothek geben.

So etwas ist nicht aus dem Boden zu stampfen: Also müßte eine der großen bestehenden Bibliotheken mit besonders reichhaltigen Altbeständen den Auftrag und die Mittel erhalten, schlechthin alles zu sammeln und es präsent und zugänglich zu halten, um langsam zu einer Art deutscher Library of Congress, einem British Museum, einer Bodleian Library zu reifen. Dem, der das unabsehbare Warten satt hat, bliebe dann am Ende immer noch die Reise in einen schummerigen Lesesaal irgendwo in Berlin oder Bonn oder Frankfurt oder München. Aber bei unseren bibliothekarischen Untalenten würde eine solche Bibliothek ihre Bestände sicher für viel zu wertvoll halten, um zuzulassen, daß sie auch noch gelesen werden.

²

 

Das System ist unzulänglich

Leserbriefe zu "Wo man Bücher verfluchen lernt"

DIE ZEIT/Leserbriefe, Nr.1, 28.Dezember 1979, Seite 13

Daß man in Deutschland gar nicht wissenschaftlich arbeiten könne, wird Dieter E. Zimmer im Ernst nicht behaupten wollen. Man wird auch nicht abstreiten können, daß bei der wissenschaftlichen Arbeit, die tatsächlich in unserem Lande geleistet wird, die Bibliotheken in sehr vielen Fällen die benötigte Literatur liefern. Selbst der vielgeschmähte Fernleihverkehr wies im Jahre 1978 1.760.944 positiv erledigte Bestellungen auf.

Es gibt bereits Modelle für eine stärkere Zentralisierung der Buchanschaffungen wie für zentralisierte Nachweise, die einen schnelleren Zugriff erlauben. Zentrale Fachbibliotheken vom Typ der erfolgreichen Technischen Informationsbibliothek in Hannover könnten schließlich für alle Fachgebiete eingerichtet werden. Die universal sammelnde Bibliothek, die Dieter E. Zimmer vorschwebt, ist eine Alternative dazu. Ob sie allerdings die Ideallösung für die Bundesrepublik wäre, möge dahingestellt bleiben. Für einen bundesweiten Verbundkatalog der Bibliotheken, die ihre Bestände mit Hilfe der EDV katalogisieren, sind bereits die Weichen gestellt. Sicher werden sich diesem im Laufe der Zeit immer mehr Bibliotheken anschließen. Ein Deutscher Gesamtkatalog der älteren Bibliotheksbestände als Gegenstück zu dem riesigen National Union Catalog der USA würde jedenfalls Millionenbeträge und vieljährige Arbeit erfordern.

          Dr. Wilhelm Totok, Berlin, Vorsitzender des Deutschen Bibliotheksverbandes

Es wird in jüngster Zeit so viel von Datenschutz geredet. Hier könnte man geradezu in Umkehrung der Verhältnisse von Daten- und Informationsverweigerung sprechen. Hier meine konkreten Vorschläge zur Behebung dieser untragbaren Misere:

1. Eine große deutsche Bibliothek wird mit einem Zentralrechner ausgerüstet, der alle Neuerwerbungen in deutschen Bibliotheken speichert.

2. Alle (zunächst größeren) Bibliotheken werden nach und nach mit mehreren Terminals ausgerüstet, über die sowohl die zentrale Speicherung der Titel als auch die Abfrage erfolgen kann.

3. Die Benutzer erhalten über einen Berechtigungscode freien Zugang zu diesen Terminals und können so in Minuten erfahren, wo in Deutschland welche Titel vorhanden sind.

4. Gleichzeitig erfolgt über das Terminal die Bestellung mit den entsprechenden Verbuchungen der beteiligten Bibliotheken und der Benutzerdaten.

Das ganze System ist technisch gar kein Problem, und die Kosten wären nach zwei bis fünf Jahren durch Einsparung von Personal (wie viele teure Bibliothekare müssen sich mit dieser stupiden Routinearbeit herumquälen) leicht zu finanzieren.

All dies ist keine Utopie, sondern in anderen Ländern (z.B. USA) seit langem Wirklichkeit.

Deutschland hat diese Entwicklung weitgehend verschlafen, es ist höchste Zeit, daß die deutschen Bibliotheken aus ihrem Dämmerschlaf erwachen!

          Werner Krag, Münster

Sie mögen recht haben, die Bibliotheken mit der Danteschen Hölle zu vergleichen, nur: Sie als Benutzer haben den Vorteil, nach Besuchen im Inferno dann in das Elysium der journalistischen Arbeit zurückzukehren, während wir Bibliothekare die Qualen ständig erleiden und die sind: Von Tag zu Tag wächst die Flut der Informationsträger in Form von Büchern und anderen Medien beängstigend an; das Bedürfnis nach Informationen wächst gleichzeitig – und womöglich noch rascher – mit. Viel zu gering dagegen sind die Mittel, die uns, vor allem für Personal, zur Verfügung stehen, um dieser Mengen Herr zu werden. Das Auseinanderklaffen zwischen Anforderungen und Möglichkeiten der Erfüllung sind unsere Alltagsqualen.

Das System ist unzulänglich, daran ist kein Zweifel. Die Lösung aber, die Sie andeuten, dürfte kaum eine Verbesserung bringen. Eine Präsenzbibliothek für ausländische Literatur: wem soll sie nützen? Was die Vergangenheit an Demokratisierung des Wissens gebracht hat, wird zu einem Teil wieder aufgegeben, wenn Information wieder zu einem Wissen wird, das nur mit den erheblichen Kosten einer Reise erlangt werden kann, die dann in der Regel nur Wirtschaft, Industrie und Presse aufbringen werden. Auch ein auf der Basis der Datenverarbeitung aufgebautes Informations Verbundsystem — dies am Rande – steht im übrigen leider in der Gefahr, für den Normalbenutzer zu unerschwinglich zu werden.

Was ist zu tun? Die Forderung, jede der größeren deutschen Bibliotheken so auszustatten, daß sie einen beträchtlichen Teil der Weltproduktion an Büchern und anderen Medien erwerben und diese auch zügig katalogisieren können, ist eine Utopie. In einem regionalen Bibliotheksverbund müssen Wege zu einem optimalen Ausbau und einer intensiven Erschließung der Bestände gesucht werden, wobei man sich selbstverständlich der Datenverarbeitung bedienen muß. Auch in anderen Regionen wird dergleichen geplant und ist in Teilen schon verwirklicht. Wenn diese Systeme arbeitsfähig sind, wird endlich die Millionenzahl der im auswärtigen Leihverkehr herumwandernden Zettel, in denen die Bibliotheken ertrinken, abnehmen und die Versorgung mit sehr spezieller Literatur durch die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft betreuten Sondersammelgebiete und durch die Zentralen Fachbibliotheken effektiver werden, da eine breitere Grundversorgung innerhalb einer Region geschieht.

Dies alles kostet Geld. Die Bürger, die Gesellschaft, die Politiker müssen entscheiden, welchen Stellenwert sie der Informationsversorgung zusprechen wollen.

          Prof. Dr. Horst Gronemeyer, Hamburg, Direktor der Staats- und Universitätsbibliothek

Es mag schon sein, daß manche Akzessionen unangemessen trödeln. Meist tun sie das aber nicht. Nur: Sie verfügen auch nicht über Geheimgänge zu den Stätten der Buchproduktion, über die sie sich unverzüglich mit eben jener oder wenigstens mit Vorinformationen über sie versorgen könnten. Natürlich haben sie bessere Informationen als der Normalverbraucher, aber sie sind, ebenso wie der resigniert zum Kauf entschlossene Bibliotheksbenutzer, auf den Handel angewiesen, der sie oft ebenso lange warten läßt bzw. warten lassen muß wie den Einzelmenschen. Daß, hiervon einmal abgesehen, meist eine zu lange Zeit zwischen dem Erwerb eines Buches und dem Augenblick verstreicht, in dem ein glücklicher Leser dieses im Bibliotheksregal findet (ein böse gewordener Bibliothekar würde vielleicht sagen: um die ihn interessierenden Seiten mehr oder weniger feinfühlig herauszutrennen), kann nicht bestritten werden; es liegt aber auch und nicht zuletzt an der außerordentlichen Zurückhaltung der (öffentlichen) Unterhaltsträger, die Bibliotheken mit dem zur Beschleunigung notwendigen Personal zu versorgen. So kommt es, daß noch der bundesrepublikanische Bibliotheksbenutzer Erfahrungen macht, die denen des Generals Stumm bei Musil gleichen. Nur mußte der eben nicht wissenschaftlich arbeiten.

          Jürgen Zimmer, Grosshesselohe

 

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