›Home

 

DIE ZEIT/Modernes Leben, Nr.28, 3.Juli 1981, S.41-42

Titel: «Expedition zu den wahren Gefühlen | Träume, Hoffnungen, Utopien – eine Bewegung der neuen Empfindsamkeit»

© 1981 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

 

Konjunktur der Empfindsamkeit

Von Dieter E. Zimmer

 

 

NOCH HERRSCHT die Vorstellung, daß es sich nicht gehöre, Gefühle zu zeigen; daß sie auf jeden Fall unter Kontrolle zu halten sind; und daß es das Beste wäre, sie gar nicht erst zu haben. Noch hat das Neue, die neue Stimmung im Westen keinen Namen. Aber es wird immer deutlicher: Zu dem, was die verschiedenen Strömungen des sogenannten alternativen Lebens heute eint, gehört die Renaissance des Fühlens. Im Idiom der Gegenwart: Feeling ist angesagt.

          Die "Stunde der wahren Empfindung" suchte 1975 Peter Handke. Sie war die Alternative zum nur "vorgetäuschten Leben". "Ich liebe, ach, meine schönen Empfindungen, meine wahren Gefühle", sagt eine junge Wohngemeinschaftsfrau in Ursula Krechels Roman Zweite Natur (1981), und: " ... wenn wir die Arbeit abschaffen wollen, weil wir uns eine Arbeit denken, die Hand und Fuß hat und eine Leidenschaftlichkeit, die wir nur in seltenen Augenblicken der Liebe entdecken."

          Die Generation der "Väter" hat die materiellen Werte erwirtschaftet – genauer: sie hat sie mehrfach ver- und erwirtschaftet. Es hat sie sichtlich nicht glücklich gemacht, und es hat die Welt nicht ins Lot gebracht und verschönt. Jetzt melden sich die über all der Tüchtigkeit zu kurz gekommenen Gefühlsansprüche.

          "Der Schweizer", sagte ein protestierender Zürcher Jugendlicher, und einer in Freiburg oder Amsterdam hätte es nicht anders gesagt, "hat nicht einmal von den banalsten persönlichen Bedürfnissen wie Liebe, Zuneigung, Miteinander-Sprechen und Offenheit einem Mitmenschen gegenüber eine Ahnung." Ein älterer Schweizer, der ehemalige Migros-Manager Hans A. Pestalozzi, der sich auf die Seite der Protestbewegung geschlagen hat, sagt es noch deutlicher: "Befähigung zum Leben ..., das heißt Fähigkeit zur Emotion" – systematisch werde schon in den Kindern die Emotionsfähigkeit und Kreativität abgetötet.

          Als hellsichtig hat sich erwiesen, was Pierre Arnold und eine Gruppe von Soziologen der Universität Genf 1971 für die Schweizer Unesco-Kommission diagnostiziert haben. Sie beschrieben den kommenden Typus, den "homme de sensation", den "Empfindungsmenschen", wie ihn der Zürcher Kinderpsychiater Heinz Stefan Herzka übersetzte. Der Empfindungsmensch zeichnet sich durch drei Züge aus. Er ist spontan: Er lebt für den Augenblick und plant nicht auf lange Sicht. Er ist atheoretisch: Er schätzt das Erlebnis höher als jede Ideologie. Und er ist dem Imaginären zugetan: Er liebt die Träume, die Hoffnungen, die Utopien, den Sprung aus dem als ungenügend empfundenen Alltag. Sein Gegentypus ist der pflicht- und verantwortungsbewußte, bürgerliche Achtbarkeit anstrebende "politische Mensch", und es ist vor allem der "technische Mensch", der Leistung und Effizienz hochhält und durch Qualifikation und Konkurrenz nach gesellschaftlichem Erfolg trachtet.

         

Vielerlei Gestalt hat der Empfindungsmensch, und viele Anzeichen verraten seine Gegenwart. Plakate im Univiertel werben für "Liebe in der Meditation – der sonnenbeschienene Weg uns selbst zu werden". Bob Dylan singt nicht mehr The times they are a-changin', sondern, religiös gestimmt, You've got to serve somebody. Der Zirkus Roncalli hat den Reformzirkus der Leni Peickert, von seinem Urheber Alexander Kluge 1967 noch mehr metaphorisch gemeint, in die Tat umgesetzt: ein Zirkus gemütlich-altertümlicher Art, bewußte und demonstrative Abkehr vom Zirkus als Leistungsshow, und auf seinen Billets steht der Genet-Spruch: "Seltsamer Plan: sich zu träumen, diesen Traum greifbar zu machen, um dann wieder zum Traum zu werden, in anderen Menschen." Das Natürliche: verschossene Latzhosen, "Urschuhe", "Nature Shoes" mit ihren doppelt vernähten Plantagengummisohlen, "freilaufende Eier", biologische Tomaten, Rüschen, Troddeln, Plünnen, Fransen, Flicken, Trödel: die Gemütswerte.

          Die Farbe dieses Milieus ist nicht mehr rot, sondern lila. "Unheimlich kreativ" werken Strickerinnen und Töpfer. Rucksackwallfahrten zu den legeren Stränden Griechenlands. Siddhartas Rückkehr. Der Import fernöstlicher Weisheit und indianischer Naturschau. Der Selbstfindungstourismus nach Poona. Ein einst linksradikaler Verlag wie Trikont hat sich den Mythen und Symbolen der Menschheit zugewandt. Der Filmemacher Claude Goretta nimmt Partei für die übersichtlich-herzlich-menschlichen Provinzverhältnisse und gegen die harte und kalte Lichterstadt. Das allgemeine Du verbindet. Die marxistische Philosophin Agnes Heller, Georg Lukacs' Meisterschülerin, deutet die ökonomische in eine emotionale Revolution um. "Unterm Pflaster ist der Strand" heißt ein Spruch, und ringsumher ist "Grönland".

          Die Wörter "Verletzlichkeit" und "Zärtlichkeit" finden Anerkennung. Die Zeitschrift psychosozial, eine fortschrittliche Mischung von Reports aus der psychotherapeutischen und sozialfürsorgerischen Praxis, ist überall ausverkauft. Babylonische Podiumsgespräche über die "Neue Innerlichkeit" finden statt. Die Romane von Michael Ende stehen schon im zweiten Jahr obenan auf den Bestsellerlisten – seine Momo (1973) schildert den siegreichen Kampf der Empfindungsmenschen, die fühlen und füreinander Zeit haben, gegen die Verschwörung der "grauen Herren" mit ihren Aktenköfferchen und Zigarren, also gegen die "technischen Menschen", die die "Lebensblume" der Empfindungsmenschen einfrieren lassen. Langsam lernen wir zu begreifen, daß der Mensch mit seinen Gefühlsdispositionen, mit denen ihn die Natur ausgestattet hat, sein Ökosystem nicht ungestraft stört und zerstört: Sonst stimmen auch seine Gefühle nicht mehr.

          Die Stichworte, denen dieses Leben gehorcht, heißen: Natürlichkeit, Spontaneität, Gemeinschaftlichkeit, Offenheit, Kreativität. Der Empfindungsmensch hat den Verkrustungen, Erstarrungen und Entfremdungen des Karriere- und Familienlebens, wie es sich der politische und technische Mensch eingerichtet hat, gekündigt. Er sucht das Unverfälschte, Unverstellte, den wahren Geschmack der Dinge, ihr wahres Aussehen. Er tappt suchend nach seinen wahren Gefühlen.

          Die sich politisch verstehende Innerlichkeit, die protestierende Empfindsamkeit, der Psychosozialismus gewinnt Boden. Weit entfernt ist die Einsicht, daß der Empfindungsmensch nur solange existenzfähig ist, wie der kompromißfähige Verantwortungssinn des politischen Menschen, das arbeitsame organisatorische Kalkül des technischen Menschen Staat und Wirtschaft in Gang halten, so wie diese beiden Krüppel bleiben, solange die Empfindungsfähigkeit verkümmert ist. Antithesen finden wie immer leichter Zulauf als Synthesen.

 

Unsichtbar hat sich eine Volksbewegung in Gang gesetzt, um in künstlich arrangierten Situationen zu entdecken, was man in den realen Situationen des Lebens nicht zu finden hofft: wahre Gefühle. In Tausenden von Gruppen überall im Land kommen sie zusammen, in Gruppen, die nicht ganz zu Recht psychotherapeutische Gruppen heißen, denn es geht in ihnen gar nicht und jedenfalls nicht vorwiegend um die Besserung und Heilung eindeutig neurotischer oder psychosomatischer Krankheiten. Die meisten Menschen, die den verschiedenen Richtungen der sogenannten Humanistischen Psychologie zuströmen, fühlen sich nicht eigentlich krank und sind es auch nicht, "funktionieren" vielmehr im normalen Leben auf normale Weise. Sie haben nur den Eindruck, daß bei diesem Funktionieren irgend etwas in ihnen zu kurz kommt, daß sie einen Teil ihrer Persönlichkeit nicht kennen und nie richtig kennengelernt haben. Ihn wollen sie aufspüren. Sie wollen nicht Heilung im engen Sinn, sondern Bereicherung.

          "Heute erachten immer mehr gesunde Menschen Therapie als einen wichtigen Teil ihres Wachstumsprozesses", schreibt der amerikanische Therapeut George F. Feiss, der 1979 ein übersichtliches "Verbraucherhandbuch" der "humanistischen" Körper-Seele-Therapien verfaßt hat: "Therapie wird heute nicht nur benutzt, um mit seinen Problemen fertigzuwerden oder um unerwünschte Angewohnheiten zu überwinden, sondern auch als ein wertvolles Werkzeug im aufregenden Prozeß der Selbstentdeckung. In der Therapie gewinnen die Menschen eine vermehrte Einsicht in ihre Beziehung zu sich selber, zu anderen und zu ihrer Umwelt."

          Was der einzelne in diesen Gruppen gewöhnlich entdeckt, ist: daß er zu Gefühlen fähig, ist, teilweise heftigster und leidenschaftlichster Art, von denen er bisher keine Ahnung hatte. Hier, in der Gruppensituation, in der ihm dafür keine ernstlichen Nachteile und Strafen drohen, kann er langsam seine Gefühlsbremsen lockern. Was er herausläßt, sind vor allem jene negativen Gefühle, die er von Kind auf im Zaum zu halten gelernt hat, denn wenn er sie gezeigt hätte, hätte er riskiert, die Zuneigung seiner Erziehungsberechtigten aufs Spiel zu setzen: Wut, Neid, Eifersucht, Traurigkeit und höchst komplizierte und subjektive Systeme von Befürchtungen – die aberzogenen, die verschütteten Emotionen. "Es kann lebenswichtig sein, daß wir unsere Empfindungen überhaupt wahrhaben und ausdrücken lernen und dafür einige Widerstände riskieren und auch Opfer bringen, und wäre es nur das Opfer der Bequemlichkeit", sagte der Schriftsteller Adolf Muschg bei den "Römerberggesprächen" 1981.

          Dann sind die Gefühle da, und vielleicht kommt man sich jetzt, da man sie verspürt und zeigen kann, vollständiger und echter vor. Die ungelöste und unlösbar bleibende Frage ist nur: Was fängt man mit ihnen draußen im Leben an, dort, wo die anderen tatsächlich zurückschlagen, wenn einer seine Wut losläßt, wo sie sich höhnisch auf den stürzen, der seine Angst erkennen läßt, wo jede offenbarte Schwäche ausgenützt wird?

 

Die Rehabilitation des Fühlens, die überall im Gange ist, bringt nicht nur die Bereitschaft mit sich, Emotionen wieder ernst und wichtig zu nehmen. Hier und da findet geradezu eine Vergötzung der Gefühle statt. Da steht man denn staunend und ehrfürchtig vor den eigenen Gefühlen und nimmt ihren Ratschluß ergeben als eine höhere und unantastbare Weisheit entgegen.

          Es hat sich in den letzten Jahren eine neue Art eingestellt, von Gefühlen zu reden: daß überhaupt von ihnen gesprochen wird, und wie über sie gesprochen wird. "Ich fühle Trauer, Wut und Ohnmacht in mir. Manchmal möchte ich etwas ganz Verrücktes tun, schreien, etwas zusammenschlagen, ein Haus anzünden", sagte ein Mädchen aus der Zürcher Protestbewegung. "Ich spüre einen Haß in mir." "Da packt dich eine Wut." "Ich finde eine Trauer in mir vor und eine Angst." Die Gewalttätigkeiten seien nicht einfach politische Demonstration, sagte der Analytiker Horst Eberhard Richter, "sondern es ist eine von innen herkommende, gestaute Angst, die sich dann umsetzt in Kaputtmachen."

          Noch vor wenigen Jahren wäre es ganz unmöglich gewesen, so zu reden. Eine Handlung wäre nur aus ihren wenigstens scheinbar rationalen Zwecken begründbar gewesen. Ich werfe einen Stein, weil ich die Amerikaner aus Vietnam vertreiben oder die Auslieferung der Springer-Zeitungen verhindern will: Meine politischen Absichten sind meine Motive. Heute werfe ich einen Molli, weil ich eine Wut, eine Angst, eine Trauer in mir vorgefunden habe. Woher ich sie habe, wie berechtigt sie sind, ob ich sie auch nur selber für berechtigt halte, ist gegebenenfalls gar keine Frage mehr. Daß das Gefühl da ist, ist Grund genug.

          Schon haben manche Schreiber der Kulturteile die Möglichkeiten dieser Sprechweise entdeckt. Früher wurden subjektive Gefühle aus Rezensionen tunlichst herausgehalten. Als einziges durfte gelegentlich "Langeweile" vorkommen – ein Buch oder eine Aufführung durfte schon einmal als "langweilig" bezeichnet werden. Aber auch das wurde immer als ein wenig unfair empfunden: Es schloß jede weitere Diskussion aus, es gab keinerlei Berufung mehr dagegen – daß ein Rezensent gegähnt hatte, war eine urtümliche Tatsache, die sich nachträglich durch kein Argument revidieren und rückgängig machen ließ. Heute trifft man in den Rezensionen nicht nur auf die "Langeweile" ihrer Autoren, sondern auf ihre "Neugier", ihre "Wut", ihre "Trauer". Dies Buch hat mich unermeßlich traurig, oder wütend gemacht – das heißt, es interessieren mich nicht die Gedanken und Phantasien, die es anregt, sondern die Gefühle, die es auslöst, und sind es ungünstige Gefühle, dann trägt der Autor die alleinige Schuld daran. "Man kann sich zu Hause fühlen in diesem Film, und es ist traurig, wenn er zu Ende ist" – so hätte früher keine Filmkritik schließen können, und unmöglich wäre es gewesen, jede weitere Erörterung mit dem Satz abzuschneiden: "Dazu hatte ich einfach keine Lust." Keinen Bock.

          Was hinter solchen Sätzen steht, ist nicht unrichtig. Der Rezensent, der nicht "ich" sagt, sondern sich hinter der imaginären Allgemeinheit des "man" verschanzt, lügt ja. Und jede Kritik ist eine Rationalisierung subjektiver Gefühle.

          Denn es ist, wie einer der Väter der Humanistischen Psychologie, der amerikanische Psychiater Abraham H. Maslow, erkannte: "Bei gesunden Menschen wirken Kognition (Erkenntnisse), Konation (Wille) und Affekt (Gefühl) viel mehr zusammen, als dass sie antagonistisch wären oder sich wechselseitig ausschlössen." Unsere Gedanken sind weitgehend mit dem schwierigen und nie ganz aufgehenden Geschäft befaßt, unsere Gefühle in Sprache umzusetzen, ihnen logische Ursachen und rationale Ziele zuzuweisen. Sie wiederholen, auf ihre Weise, die Verdikte der Gefühle, und nur manchmal widersprechen sie ihnen.

         

Was die neue Sprechweise so fragwürdig macht, ist nur, daß sie Gefühle als letzte und abschließende Argumente einsetzt. Gefühle ‒ das ist etwas, das den einzelnen wie von außen anfällt, das ihn überkommt wie eine Infektionskrankheit. Unschuldig und arglos geht er seines Wegs, durchaus aufgeschlossen für alles, was ihm begegnet, da packt ihn eine Wut, da überfällt ihn eine Trauer, wie die Windpocken, wie ein Inkubus, der ihm aufhockt, und er kann nur noch hilflos die Achseln zucken. Frag mich nicht, warum ich dies oder das tue, mich hat neulich eben eine Wut ergriffen. Manchmal geht man sogar weiter: Dann trägt man seine Gefühle stolz und rücksichtheischend vor sich her wie eine Schwangere ihren Bauch.

          Respekt verdienen Gefühle schon, denn sie sind ein unveräußerlicher und nur unter Opfern unterdrückbarer Bestandteil unserer Natur. Schon als Machtfaktor werden sie besser ernstgenommen: Sie werden sich immer wieder unabhängig von dem, was sich unser Verstand ausrechnet, durchsetzen. Aber wir müssen auch einsehen und akzeptieren, daß unsere Gefühle nichts Fremdes sind, was uns von irgendwo außen anfliegt, unserer Zuständigkeit entzogen, sondern daß wir selber unsere Gefühle sind, wie wir alle unsere Lebensvorgänge sind, die bewußten und auch noch die dem Bewußtsein und unserer Kontrolle am weitesten entrückten. Wir haben sie nicht, wir sind sie. Nur, weil sie Gefühle sind, sind sie nicht schon notwendig fraglos gut und richtig. Ebensogut können sie irrig, kleinlich und gemein sein. Wir sind für sie nicht weniger verantwortlich als für unsere Gedanken. Als solche  rechtfertigen sie gar nichts, und niemanden entlassen sie aus der Notwendigkeit, auch die anderen Instanzen seiner Psyche zu bemühen.

          "Ich habe ein Gefühl" – das ist eine wichtige Auskunft und eine, die Folgen ankündigt und schon darum verdient, ernstgenommen zu werden. Aber das Gefühl kam nicht aus dem Nichts und darf auf seine Ursachen und Ziele befragt werden, und selbst wenn es noch so stark ist, kann es doch Unrecht. haben. Dann darf ihm keine ehrfürchtige Komplizenschaft mehr widerfahren, weder die der Mitmenschen noch die seines Eigentümers.

 

›Home