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DIE ZEIT/Feuilleton, Nr.5, 23.Januar 1981, S.33-34

© 1981 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

 

 Gustaf Gründgens 1941 als Mephisto in Faust II

im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt

 Foto Wilhelmi

 

 

Der Fall Mephisto

Von Dieter E. Zimmer

 

DER FALL hat etwas für viele. Er zwingt zum Nachdenken über politische Moral, er stellt schwierige juristische Grundsatzfragen, und auch die Liebhaber von Theaterklatsch bedient er reichlich. Es ist der "Fall Mephisto" – die langwierigste publizistische und rechtliche Auseinandersetzung um ein Werk der Kunst in der Geschichte der Bundesrepublik.

          Wenn der Buchhandel seit dem 2. Januar Klaus Manns Roman Mephisto als silbern schimmerndes Rowohlt Taschenbuch verkauft, wie einige Buchhändler schon 1980 einen Raubdruck französischer Herkunft verkauften, so verkauft er ein verbotenes Ding. Satz, Druck, Auslieferung gingen im geheimen vor sich. Hätte die Justiz zugegriffen, so wäre die Auflage schon im Sortiment versickert gewesen. Wie üblich, war die Verbotsdrohung die wirksamste Reklame. Die 30.000 Exemplare, die Rowohlt auflegen wollte, waren schon auf Grund einer Vorveröffentlichung im stern vergriffen; 14 Tage später waren gut 130.000 Stück verkauft. Mit Tagesbestellzahlen bis zu 35.000 Stück schlug der Roman sogar den bisherigen Rekord, das Dutschke-Taschenbuch von 1968.

          Und so bald wird das Interesse an Mephisto auch nicht abflauen. Die Bühnenbearbeitung des Romans durch Ariane Mnouchkine, mit der das Pariser Théâtre du Soleil im Frühjahr 1980 in Berlin und München gastierte und die es auch als Film gibt, wird zur Zeit in Basel, Stuttgart, Freiburg, Mannheim und Castrop-Rauxel inszeniert. In Ungarn stellt der Regisseur István Szabó gerade eine Verfilmung des Mephisto mit Klaus Maria Brandauer in der Hauptrolle fertig. Sie wird vermutlich bei den nächsten Filmfestspielen in Cannes Premiere haben. Der Hessische Rundfunk interessiert sich dafür, sie ins Deutsche Fernsehen zu bringen.

          Das Ganze ist ein Lehrstück. Es zeigt: Bücher sind nicht totzukriegen. Nichts erhält sie so lebendig wie ein Verbot. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, zu sagen: Mephisto, ein zwar munterer und immer interessanter, literarisch aber oft belanglos-kolportagehafter und ein in gewisser Hinsicht geradezu perfider Roman, wäre längst vergessen, gäbe es da nicht das Verbot.

          Mephisto, 1936 in Amsterdam geschrieben und veröffentlicht, ist der "Roman einer Karriere", wie der Untertitel besagt: der Karriere des Provinzschauspielers Hendrik Höfgen, der es in der NS-Zeit zum preußischen Schauspielintendanten und Staatsrat bringt. Höfgen ist eine fiktive Figur, der Züge von verschiedenen Zeitgenossen zugeschrieben wurden – der französische Romancier Michel Tournier glaubte in ihm vor allem Veit Harlan wiederzuerkennen. In den Hauptstationen und manchen Details seines Werdegangs aber und in seinem Äußeren bis zum Monokel und bis zu seiner Empfehlung des "aasigen" Lächelns gleicht er Gustaf Gründgens.

          Von Anfang an wurde Mephisto darum als ein Roman über Gründgens aufgefaßt. Auch das übrige Personal des Romans hat mehr oder weniger ferne reale Vorbilder. Man erkennt unter anderen Max Reinhardt, Hanns Johst, Elisabeth Bergner, Carl Sternheim, Gottfried Benn und den Prinzipal der Hamburger Kammerspiele, Erich Ziegel. Alle Auseinandersetzungen aber drehten sich um die Frage: Wie stark ist die Identität von Höfgen und Gründgens? Was stimmt hier? Was ist vielleicht ungerechte, aber zulässige Meinung? Was ist reine Verleumdung?

          Der Roman gehört also zu einer sehr beliebten und sehr suspekten Literaturgattung. Damals sagte man "Schlüsselroman"; heute hieße es prätentiöser "Dokumentarliteratur". Es ist jene Literatur, die, um zu politischen Tagesfragen Meinung zu machen, Dichtung und Wahrheit auf unentwirrbare Weise vermengt. Ob Stellvertreter, Oppenheimer oder auch ein Film wie Lili Marleen: da so viel an ihr dokumentierbar wahr ist, suggeriert sie, auch ihre imaginären Zutaten seien es. Wo sie nicht sehr vorsichtig ist, betreibt sie, im Namen von Moral und höherer Wahrheit natürlich, die Unterstellung. Der künstlerischen Haftbarkeit kann sie sich leicht mit dem Hinweis auf die Wahrheit des Lebens entziehen, der sie gehorche und von der sie auf jeden Fall ihren Ernst bezieht. Simplen Ansprüchen an ihre Richtigkeit dagegen entwindet sie sich mit der Entschuldigung, daß sie als Kunst schließlich frei walten könne und sich nicht an die öden Fakten halten müsse.

          Wenn ein solches hybrides Werk dann gar noch einmal umgesetzt wird wie in Mnouchkines Bühnenfassung des Mephisto (eine deutsche Übersetzung liegt im Ellermann Verlag vor), die – literarisch und gedanklich ein dürftiger Text – teils der dokumentierten Realität etwas näher rückt als der Roman, teils eine freie Variation über ihn darstellt, weil sie eine ganz andere Frage, nämlich die nach der Rolle der Kommunisten vor und nach 1933, in den Mittelpunkt rückt und darüber die Hauptfigur Höfgen an den Rand schiebt, dann wird es vollends unmöglich, Erfindung und Wahrheit noch auseinanderzudividieren.

          Die postume Auseinandersetzung zwischen Klaus Mann und Gründgens wurde ein "Duell der Toten" genannt. Klaus Mann nahm sich, 43 Jahre alt, 1949 in Cannes mit Schlaftabletten das Leben. Gustaf Gründgens war 64, als er 1963 in Manila an einer Überdosis Schlaftabletten starb. Es ist außerdem ein Duell zwischen Geschichte und Legende. Die Legende scheint insgesamt die Stärkere zu sein.

          Die Frage, ob mit Hendrik Höfgen, dessen negatives Charakterporträt der Roman Mephisto zeichnet, Gründgens gemeint sei, hat Klaus Mann selber widersprüchlich beantwortet. Als gleich 1936 die Emigrantenzeitung Pariser Tageblatt den Roman in Fortsetzungen druckte und als "Schlüsselroman" vorstellte, schickte ihr Klaus Mann einen Brief, in dem er sich gegen diese Bezeichnung verwahrte: Schlüsselromane seien unter der Würde eines seriösen Autors. "Mir lag nicht daran, die Geschichte eines bestimmten Menschen zu erzählen ... Mir lag daran, einen Typus darzustellen und mit ihm die verschiedenen Milieus (mein Roman spielt keineswegs nur im 'braunen'), die soziologischen und geistigen Voraussetzungen, die solchen Aufstieg erst möglich machten."

          In der amerikanischen Originalausgabe seiner Autobiographie Der Wendepunkt (L.B. Fischer, 1942) liest es sich dann ganz anders: "Ich sehe (Gründgens) als den Verräter par excellence, die makabre Verkörperung von Korruption und Zynismus. Sein schändlicher Ruhm faszinierte mich so stark, daß ich beschloß, Mephisto-Gründgens in einem satirischen Roman zu porträtieren." Die Stelle fehlt in der britischen Ausgabe dieses Buches (Gollancz, 1944).

          Die spätere deutsche Ausgabe des Wendepunkts (S. Fischer, 1952) ist mehrdeutig. "Es geht in diesem zeitkritischen Versuch überhaupt nicht um den Einzelfall, sondern um den Typ: Als Exempel hätte mir genausogut ein anderer dienen können. Meine Wahl fiel auf Gründgens – nicht, weil ich ihn für besonders schlimm gehalten hätte …, sondern einfach, weil ich ihn zufällig besonders genau kannte ..."

          Ist Höfgen also Gründgens oder ein abstrakter "Typ"? Er ist beides. Genauer: Er ist im wesentlichen zwar Gründgens, aber interessierte seinen Autor, darf man ihm glauben, nicht als Gründgens, sondern als Typus des "ruchlos brillanten, zynisch rücksichtslosen Karrieremachers".

          "... weil ich ihn zufällig besonders genau kannte": In der Tat hat der Fall eine private Dimension, die ihn nicht gerade verschönt. 1925, als 19jähriger, hatte Klaus Mann, Thomas Manns ältester Sohn, ein verrucht-romantisches Liebesdrama geschrieben, Anja und Esther. Es wurde 1925 an den Hamburger Kammerspielen aufgeführt. Die Darsteller waren: Klaus Mann, seine ein Jahr ältere Schwester Erika Mann, seine Verlobte Pamela Wedekind und ein junges, begabtes Mitglied des Kammerspiel-Ensembles, Gustaf Gründgens. Bald darauf heiratete Gründgens Erika Mann. Zwei Jahre später wirkte Gründgens als Regisseur und Schauspieler an Klaus Manns zweitem Stück mit, der Revue zu Vieren. In Berlin schrieb Werner Krauss an die Bühnentür: "Hier können Familien Theater spielen."

          Der Schwager Gründgens muß Klaus Mann tief fasziniert haben. Er, dem schon seine Schauspiellehrerin Louise Dumont hellsichtig bescheinigt hatte, er besitze "ein ungewöhnliches Talent für die sinnfällige Ausformung der seelischen Struktur problematischer Naturen", besaß genau jenes schillernde Genie, das Klaus Mann so schätzte. Außerdem gehörten sie beide zur Internationale der Homosexuellen. Da Klaus Mann am Theater Dilettant war und sich neben dem brillanten Verwandlungskünstler ganz besonders dilettantenhaft vorkommen mußte, kann ihre Freundschaft nicht ohne Spannungen geblieben sein.

          Es ist darum nicht die reine Indiskretion, wenn immer wieder gesagt worden ist, der Mephisto sei die Rache eines Homosexuellen am anderen; oder er sei die Rache für die gescheiterte Ehe der geliebten Schwester. Dies muß dahingestellt bleiben, und kann es um so eher, als Klaus Mann 1936 ein in sich völlig ausreichendes, durch und durch präsentables Motiv hatte, seinen einstigen Freund und Schwager als ein Charakterschwein darzustellen: die Enttäuschung über seine politische Entwicklung. Klaus Mann war wie der Rest seiner Familie gleich nach 1933 emigriert und bald ausgebürgert worden. Gustaf Gründgens war Anfang der dreißiger Jahre nach Berlin gegangen, dort zu Ruhm gekommen und wurde durch die Protektion des preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring zum Intendanten der preußischen Staatsschauspiele befördert. Aus der Sicht des Emigranten konnte, ja mußte er als der Hofkomödiant der Nazis dastehen. In der deutschen Fassung des Wendepunkts schrieb Klaus Mann: "Wie, man hatte mit ihm gelebt, gearbeitet, diskutiert, gespielt, gezecht, Pläne gemacht, gute Freundschaft gehalten, und nun saß er am Tische des monströsen Reichsmarschalls? Und nun zechte, spielte, diskutierte er mit den Mördern? Nicht genug damit, daß er atmen konnte in der verpesteten Luft, daß er es aushielt in jener Sphäre, die uns unbetretbar geworden war, er feierte Triumphe dort."               

          Diese Enttäuschung zeichnet den Roman. Wenn er bis heute interessant ist, so einmal als Zeugnis dafür, wie (auch wie irrig) die Emigration, wie jedenfalls dieser Emigrant das NS-Regime sah: etwa wie er die Rolle des Widerstands überschätzte; wie er den Typus des Nazis aus Idealismus überbetonte, der eigentlich Kommunist ist, es nur nicht weiß, und der erst irregeleitet und dann prompt desillusioniert wird; oder wie er annahm, die Forderung nach öffentlichen Folterungen und Hinrichtungen hätte einen Dichter dem Regime genehm machen können. Zum andern aber macht ihn seine Zwiespältigkeit interessant. Klaus Mann will zwar mit seiner Hauptfigur abrechnen, aber immer schlägt die Bewunderung durch.

          Ein Mensch wie Gründgens/Höfgen taugte von vornherein denkbar schlecht, zum Typus des Nazi-Karrieristen stilisiert zu werden. Er war genau jener Typ, der dem Nationalsozialismus verhaßt war: ein "Asphalt-Künstler", ein "Kulturbolschewist". Schon darum konnte es Klaus Mann nicht gelingen, ihn zu dem Paradigma zu machen, das ihm vorschwebte. Und durchweg merkt der Leser, wie Klaus Mann seinen Helden zwar nach Kräften anschwärzen wollte, es aber nicht schaffte. So beteuert er wohl mehrfach seine Gewissenlosigkeit und Schuftigkeit, oder läßt ihn selber sie beteuern, bleibt die Belege dafür aber weitgehend schuldig. Der Höfgen des Romans ist zwar ein aus Unsicherheit eitler und ehrgeiziger Mann; ein Schuft ist er kaum, ein Nazi und Verbrecher gar nicht, aber ein sehr begabter, sehr tüchtiger und sehr eindrucksvoller Theatermann immer.

          Gottfried Benn hat dem Roman diese Haßliebe angemerkt und ihn auch sonst klar und gelassen beurteilt. Er selber kommt in ihm unter dem Namen Pelz als widerlicher Karrierepoet und Freund öffentlicher Exekutionen vor. Dennoch hatte ihm Klaus Mann ein gewidmetes Exemplar nach Berlin geschickt. Benn schrieb an eine Freundin: "[Mephisto] ist faustdick Schlüsselroman. Ich komme auch vor, wenigstens soll ich es wohl sein. Geistig alles sehr schwach, kritisch resultatlos – 1926 das Ganze. G.G. ist für niemanden ein 'Mephisto', sondern nur ein ganz routinierter Schauspieler und sicher tadelloser Intendant ... Und eigentlich ist das Buch mehr eine bewundernde Ovation als eine Vernichtung, die es doch sein soll."

          Curt Riess berichtet, er habe nach dem Krieg Klaus Mann und Gründgens fast miteinander aussöhnen können; schließlich aber habe Klaus Mann mit den Worten abgelehnt: "Das würde mir Erika nie verzeihen."

          Gründgens fühlte sich diffamiert, und in der Tat diffamierte der Roman ihn, wenn auch aus den achtenswertesten Gründen. Wer ihn als ein Buch über Gründgens liest, wird schlecht und falsch informiert.

          Gründgens war nicht der gewissenlose Nazi aus Opportunismus, als den Klaus Mann Höfgen schildert. Hitlergruß und Parteiabzeichen waren in seinen Theatern nicht erwünscht. Göring bestellte ihn zum Intendanten nicht, weil er jemals Sympathie für den Nationalsozialismus geäußert hätte, sondern – so meint K.H. Ruppel – weil er sich mit seinem illustren Namen schmücken wollte wie mit seinen sonstigen Orden. Verfemte Autoren durften auch bei Gründgens nicht gespielt werden; aber auch Nazi-Stücke wurden nicht gespielt. Viele, die es miterlebt haben, versichern, daß Gründgens' Theater den Nazi-Gegnern Lichtblick und Zuversicht blieb. Ihm sei es zu verdanken gewesen, daß die Tradition des deutschen Theaters an einer Stelle gewahrt wurde. Inmitten von Verbrechertum und Gesinnungslumperei habe er sein Haus sauber zu halten gewußt: eine Insel.

          Mehr noch; im Unterschied zu Höfgen riskierte er viel, um Verfolgten zu helfen. Er zahlte das Begräbnis des kommunistischen Schauspielers Hans Otto, der von der Gestapo gefoltert und zu Tode gesprungen war; im Roman tut Höfgen das gleiche für den toten Otto Ulrichs – der Unterschied ist der, daß Höfgen und Ulrichs im Roman befreundet waren und der Überlebende sich für den Verrat an der Sache des Freundes freikaufen will, während Gründgens dem Toten gegenüber in keiner Weise verpflichtet war. Gründgens deckte unbotmäßige Mitarbeiter wie Jürgen Fehling. Er beschäftigte Schauspieler, die er, weil "jüdisch" oder "jüdisch versippt", nicht hätte beschäftigen dürfen: Paul Bildt, Paul Henckels, Theo Lingen, Otto Wernicke, Erich Ziegel. Er warnte seine Leute rechtzeitig vor dem Zugriff der Gestapo. Er rettete dem kommunistischen Schauspieler und Sänger Ernst Busch durch ein falsches Attest, das ihm politische Harmlosigkeit bescheinigte, und durch die Bestellung eines raffinierten Anwalts das Leben.

          Charakteristisch ist, wie er 1934 dem Theaterkritiker Alfred Mühr Schlimmes ersparte. (Die Episode steht in der Gründgens-Biographie von Curt Riess.) Mühr hatte Göring (und Gründgens) durch fortgesetzte Kritik an den Staatstheatern geärgert. Göring sperrte Mühr die Pressekarten und schrieb einen Brief an dessen Deutsche Zeitung. Darin standen nicht nur Sätze wie "Das Recht zur öffentlichen Zeitungskritik besitzt nur der Mensch, der jederzeit beweisen kann, daß er das, was er kritisiert, auch besser machen kann und besser versteht". Der Reichsmarschall und Theaterherr bezeichnete die Kritik auch als "Sabotage an meinem Aufbauwerk" und drohte, "rücksichtslos durchzugreifen" und Mühr von der Polizei beobachten zu lassen. "Am gleichen Abend", schreibt Riess, "während eines Empfanges, nahm Göring Gründgens beiseite und fragte ihn: 'Also was machen wir nun mit diesem Kerl? Sollen wir ihn verhaften? Eine Woche KZ oder so was?' Worauf Gründgens antwortete: 'Das dürfte leider nicht mehr möglich sein. Er ist nämlich seit heute an Ihrem Theater engagiert.'" Er hatte Mühr eine Dramaturgenstelle angeboten.

          Propagandaminister Goebbels, dem Görings Staatsbühnen entzogen und ein Dorn im Auge waren, nannte die Berliner Theater, denen Gründgens und Heinz Hilpert vorstanden, "KZ auf Urlaub". Ob er sich denn freiwillig nach Buchenwald hätte melden sollen, fragte Gründgens später.

          Das gewöhnlichste Stück Wirklichkeit ist nämlich meist tiefer und komplizierter, als es sich eine vor allem von anständiger Gesinnung getragene Kunst träumen läßt. Gründgens sah sich (aliquid haeret) zu Recht von einem Buch verleumdet, das ihn unter dem Namen Höfgen als den personifizierten Bösen, eben Mephisto, auftreten ließ, der nur die Karriere im Sinn hat und die Verfolgten schnöde im Stich läßt. So lag sein Fall nicht. Seiner war viel heikler und interessanter. Er hatte dem NS-Staat möglich gemacht, sich mit seinem Namen zu dekorieren, und ihm damit zu etwas mehr Reputierlichkeit verholfen. Er spielte den Mördern auf und trug das Seine dazu bei, sie harmloser und biedermännischer erscheinen zu lassen. Vielleicht hatte er seinen Posten nicht gerade angenommen, um Verfolgten zu helfen, aber er nahm an und half, unter erheblichem eigenen Risiko. Ohne ihn wäre manches schlimmer gekommen. Er war der Kollaborateur nicht aus Moral, aber mit Moral. Von einem rigorosen Standpunkt aus mag sein Verhalten zwielichtig oder verwerflich erscheinen. Aber wer sich diesen Standpunkt zu eigen macht, sollte schon ziemlich sicher sein, daß er selber in einer ähnlichen Situation mindestens ebenso charaktervoll gehandelt hätte.

          Mephisto erschien nach dem Tod Klaus Manns 1949 in Ostberlin. Nach Auskunft von Klaus Manns westdeutschem Verleger Berthold Spangenberg drohte Gründgens vier oder fünf westdeutschen Verlagen, die eine Veröffentlichung planten, mit gerichtlichen Schritten. Mephisto erschien nicht, Gründgens klagte nicht.

          Kurz nach Gründgens' Tod kündigte Spangenberg die Publikation an. Darauf erhob Gründgens' letzter Lebensgefährte, sein Adoptivsohn und Alleinerbe, der Regisseur Peter Gorski, Klage: Mephisto zeichne ein verfälschtes, grob ehrverletzendes Bild von Gründgens. Das Landgericht Hamburg wies die Klage 1965 ab. Daraufhin erschien Mephisto in der damals Spangenberg gehörenden Nymphenburger Verlagshandlung in einer Auflage von 10.000 Exemplaren. Sie trugen den Hinweis, die Personen seien Typen, nicht Porträts.

          Gorski legte vor dem Hamburger Oberlandesgericht Berufung ein. Diese Instanz folgte seinem Antrag. Seit dem 23. November 1965 ist Mephisto verboten.

          Spangenberg gab sich mit dieser Entscheidung nicht zufrieden und trug den Fall vor den Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht. Beide bestätigten sie den Verbotsspruch – der Bundesgerichtshof 1968, das Bundesverfassungsgericht 1971.

          Da es beim Verbot blieb, herrscht bei Leuten, die die Urteile selber nicht kennen, heute der Eindruck, die Justiz habe hier wieder einmal ganz besonders "kunstfeindlich" (stern) entschieden. In Wahrheit ist besonders das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein mustergültig liberaler Text, einer von denen, um dessentwillen Intellektuelle mit diesem Staat ganz zufrieden sein könnten. Da das Gericht die alte Frage zu entscheiden hatte, ob irgend etwas die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes einschränken könne, ist es weit über den Fall hinaus von Bedeutung.

          Zu dieser Frage äußerte sich das Bundesverfassungsgericht mit den geradezu klassischen Sätzen: Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes habe den Sinn und die Aufgabe, Kunst "von jeglicher Ingerenz öffentlicher Gewalt freizuhalten. Die Art und Weise, in der der Künstler der Wirklichkeit begegnet und die Vorgänge gestaltet, die er in dieser Begegnung erfährt, darf ihm nicht vorgeschrieben werden … Über die 'Richtigkeit' seiner Haltung gegenüber der Wirklichkeit kann nur der Künstler selbst entscheiden. Insoweit bedeutet die Kunstfreiheitsgarantie das Verbot, auf Methoden, Inhalte und Tendenzen der künstlerischen Tätigkeit einzuwirken, insbesondere den künstlerischen Gestaltungsraum einzuengen oder allgemein verbindliche Regeln für diesen Schaffensprozeß vorzuschreiben … Das gilt auch und gerade dort, wo der Künstler sich mit aktuellem Geschehen auseinandersetzt; der Bereich der 'engagierten' Kunst ist von der Freiheitsgarantie nicht ausgenommen."

          Der Schutz erstrecke sich auf das Werk wie auf sein Wirken; also darf nicht nur die Entstehung des Werks nicht behindert werden, sondern auch seine Verbreitung. Der Kunstbegriff dürfe nicht wertend eingeengt werden. Die Kunstfreiheit werde durch die allgemeinen Gesetze nicht eingeschränkt. Auch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das früher von der Justiz so oft bemühte ungeschriebene "Sittengesetz" dürften die Kunstfreiheit nicht schmälern. Nur die "grundgesetzliche Wertordnung" selber könne die Freiheit der Kunst beschränken. So dürfe die Kunst die "Würde des Menschen" als den höchsten Wert der     Verfassung nicht verIetzen.

          Genau dies aber, befand das Bundesverfassungsgericht, tue der Roman Mephisto. Darum bestätigte es  das Verbot. Drei seiner sechs Richter waren übrigens für dessen Aufhebung (bei Stimmengleichheit aber gilt ein Antrag als abgewiesen). In ihrem abweichenden Votum unterstützte die Richterin Wiltraut Rupp-von Brüneck die Argumentation des Gerichts nur in einem Punkt nicht: Sie fand, die Kollegen hätten nicht ausreichend berücksichtigt, daß die Kunst etwas Eigenständiges sei, eine "wirklichere Wirklichkeit" – sie lasse sich nur an ihren eigenen Maßstäben messen. Diese Meinung in Ehren: die der drei Richter, die annahmen, Höfgen könne durchaus mit Gründgens verwechselt werden, war wohl lebensnäher.

          Obwohl das Buch seitdem durch höchsten Richterspruch verboten ist, hat der Rowohlt Verlag mit der jetzigen Taschenbuchausgabe nicht viel riskiert. Die Taschenbuchlizenz hatte Rowohlt schon 1966 erworben, aber wegen des Verfahrens ruhenlassen. Die Idee zur Neuveröffentlichung trotz Verbot kam von Rowohlts Geschäftsführer Matthias Wegner, der einst über Exilliteratur promovierte und mit dem Fall vertraut war; es war eine richtige und dazu auch noch geschäftstüchtige Idee, aber kein heroisches Heldenstück. Denn was könnte passieren?

          Der alte Prozeß zwischen 1963 und 1971 war ein zivilrechtlicher Streit. Das Urteil bindet nur die Parteien. Strafgesetze waren nie im Spiel. Hätte Spangenberg oder Rowohlt oder ein anderer Mephisto kurz nach dem Verbot und ihm zum Trotz publiziert, so hätte Gorski mühelos eine einstweilige Verfügung erwirken können; alle Richter hätten nur die früheren Urteile abschreiben müssen.

          Inzwischen aber sind 15 Jahre vergangen, und es müßte der ganze Prozeß neu aufgerollt werden. Zunächst müßte ein Kläger da sein, der im Namen von Gründgens' verletzter Menschenwürde vor Gericht ginge. Gorski lebt seit Jahren zurückgezogen auf Madeira und könnte von dort aus ein solches Verfahren auch dann kaum führen, wenn er es wollte; und es ist gut vorstellbar, daß er es gar nicht mehr will – daß er eingesehen hat, daß sich Bücher durch Verbote nicht aus der Welt schaffen lassen und daß seine damalige Klage genau das bewirkt hat, was sie verhindern sollte: Dank dem Verbot ist das Buch lebendiger, ist die Figur Höfgen enger mit Gründgens verknüpft, als  das sonst der Fall wäre. Und fände sich ein Kläger, wäre gar nicht sicher, wie das Verfahren diesmal ausginge. Ohne weiteres würden die alten Urteile nicht mehr übernommen, und das um so weniger, als sie selber schon vorwegnahmen, daß sich die Rechtslage mit der Zeit ändern könne – "daß das Schutzbedürfnis – und entsprechend die Schutzverpflichtung – in dem Maße schwindet, in dem die Erinnerung an den Verstorbenen verblaßt und im Laufe der Zeit auch das Interesse an der Nichtverfälschung des Lebensbildes abnimmt".

          Ehe die Angelegenheit gänzlich in den Bereich der Legende entrückt ist, die aus ihr macht, was ihr beliebt; auch ehe die beiden ehemaligen Freunde, der Schriftsteller Klaus Mann und der Theatermann Gustaf Gründgens, nur noch als das ineinander verkrallte Gespensterpaar in Erinnerung bleiben, das einen ewigen postmortalen Rechtsstreit austrägt (beide haben sie Besseres verdient), wäre jetzt vielleicht die Gelegenheit, den Fall als Fall beizulegen. Das könnte so aussehen: Die Gründgens-Partei verzichtet freiwillig auf eine abermalige Klage. Die Klaus-Mann-Partei fügt allen kommenden Ausgaben freiwillig nicht nur eine formale Klausel bei, der der Leser entnehmen kann, daß Höfgen nicht unbedingt mit Gründgens identisch ist, sondern ein neutrales Nachwort, das dem Leser auseinandersetzt, inwiefern der wahre Gründgens anders war als sein verzeichnetes Double.

          Dann wären wir das wie immer unschöne und untaugliche Buchverbot los, und die beiden Geister könnten Ruhe finden.

 

PS 2010: Peter Gorski hat gegen die Rowohlt-Ausgabe nicht mehr geklagt.

 

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