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DAS GEDÄCHTNIS

Im Kopf die ganze Welt (2)

Von Dieter E. Zimmer

DIE ZEIT / ZEITmagazin, Nr. 17, 17. April 1987, Seite 40-42, 44, 48, 50, 52-53

© 1987 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

Das Gedächtnis, Einzahl, gibt es nicht. Was wir "das Gedächtnis" nennen, ist ein Zusammenspiel verschiedenster Prozesse mit einem gemeinsamen Nenner: in unserem Nervensystem festzuhalten, was nicht mehr ist. Die Psychologie hat in den letzten zwanzig Jahren viel Mühe darauf verwandt, herauszufinden, welche Gedächtnissysteme man sinnvollerweise zu unterscheiden hat. Völlige Übereinstimmung wurde dabei nicht erzielt.

Aber eine Reihe von Unterscheidungen werden heute doch weithin als nützlich akzeptiert. Sie teilen in dreierlei Hinsicht auf, was wir zusammenfassend das Gedächtnis nennen: in seiner Stärke, seinen Inhalten und seiner Dauer. Man muss sich nur hüten, hinter solchen Aufteilungen sofort auch getrennte Mechanismen und Gehirnapparaturen zu vermuten. Es handelt sich um eine äußerliche, "phänomenologische" Unterscheidung von Funktionen. Wie diese im Gehirn verankert sind, ob sie autonom oder auf tieferen Ebenen miteinander verbunden sind, an welchen gemeinsamen Gehirnprozessen sie teilhaben – dazu sagt eine solche Unterteilung in verschiedene "Gedächtnisse" nichts. Dafür aber können sie sich auf konkrete, nachvollziehbare Beobachtungen stützen.

Wir wissen alle, dass es sehr viel schwerer ist, ein Gesicht zu beschreiben, als nur zu sagen, ob es uns bekannt vorkommt; oder sich die Worte einer fremden Sprache im richtigen Moment selber einfallen zu lassen, als sie nur zu verstehen, wenn wir sie lesen oder deutlich ausgesprochen hören. Das (passive) Wiedererkennensgedächtnis, heißt das, ist größer als das (aktive) Reproduldionsgedächtnis.

Wie viel größer? In der schon erwähnten Untersuchung von Harry P. Bahrick (Wie gut bleiben Namen und Gesichter von Schulkameraden das Leben über in Erinnerung?) erkannten jene, deren Schulzeit erst einige Monate zurücklag, etwa 90 Prozent der Namen und Gesichter wieder. Aber wenn sie sie ohne jede Gedächtnisstütze reproduzieren sollten, waren es nur halb so viele. Je länger die Schulzeit hinter ihnen lag, umso schwächer wurde das Reproduktionsgedächtnis im Verhältnis zum Wiedererkennengedächtnis. Nach einem halben Jahrhundert erkannten sie zwar erstaunlicherweise immer noch 70 Prozent ihrer alten Schulkameraden wieder, ihr Wiedererkennensgedächtnis war also nur von 90 auf 70 Prozent gesunken. Von selbst kamen sie aber nur noch auf 20 Prozent.

Eine andere Schätzung ermöglicht der Wortschatz unserer Muttersprache – jener Teil, über den wir verfügen. (Der gesamte Wortschatz ist um ein Vielfaches größer, wenn man auch alle Fach- und Sondersprachen dazurechnet; da auch die Wörter für alle Sterne dazugehören und die Wörter für alle möglichen chemischen Verbindungen, kann man sagen: Er ist unendlich groß.) Durchschnittlich gebildete Deutsche haben einen passiven Wortschatz von knapp 94.000 Wörtern. Das heißt, etwa ein Drittel des gesamten allgemeinen deutschen Wortschatzes, der in den großen Wörterbüchern steht, ist ihnen bekannt und verständlich. Aber geläufig ist er ihnen nicht. Von einigen Sprachgenies abgesehen, verwendet ein Normalmensch nämlich allerhöchstens 25.000 und vielleicht nicht mehr als 5000. Von zehn uns bekannten Wörtern stehen uns also höchstens zwei oder drei so zur Verfügung, dass wir sie auch selber benutzen können. Unser passiver Wortschatz ist also fast viermal so groß wie unser aktiver.

Sicher hat der Kapazitätsunterschied zwischen Wiedererkennens- und Reproduktionsgedächtnis mit dem zu tun, was in der Psychologie "Verarbeitungstiefe" heißt. Je mehr geistige Arbeit man in ein Material investiert, um so eher bleibt es dann auch haften. Muss man sich, so wurde in einem grundlegenden Experiment ermittelt, von einem Wort nur das Aussehen merken, so wird es schlechter erinnert, als wenn man sich außerdem auch noch mit seinem Klang beschäftigt hat; und noch besser ist die Erinnerung, wenn man sich auch seine Bedeutung vergegenwärtigen musste.

Man darf diesen Befund wohl ausdehnen. Wir erinnern uns am besten an alles das, was uns besonders vielfältig beschäftigt hat – und uns dazu auch gefühlsmäßig stark engagierte. Was ein Bonobo ist, bleibt uns möglicherweise sogar in Erinnerung, wenn wir nur irgendwann die Definition nachgeschlagen haben; sehr wahrscheinlich aber ist es nicht. Deutlicher und dauerhafter wird die Erinnerung ausfallen, wenn wir dazu auch ein Bild dieses menschenähnlichsten aller Tiere gesehen haben, und noch deutlicher und dauerhafter, wenn wir es nicht nur abgebildet, sondern leibhaftig gesehen haben, und dazu gehört, gerochen, befühlt. Und am allerdeutlichsten und dauerhaftesten ist die Erinnerung, wenn wir starke eigene Erlebnisse mit ihm verbinden, zum Beispiel, wie es unversehens einen Knüppel nach einem geschleudert hat. Dergleichen vergisst man nicht. Je mehr "Kanäle" schon bei der Wahrnehmung beteiligt waren, und je gründlicher wir die Sache dann innerlich um und um gewälzt haben, desto stärker festigen sich ihre Gedächtnisspuren.

Das Reproduktionsgedächtnis scheint angewiesen auf eine besonders starke Gedächtnisspur, wie sie die flüchtigeren Eindrücke nicht hinterlassen. Und wenn die Spuren älter werden und nichts sie auffrischt, sind sie eines Tages wohl zu schwach für die Reproduktion. Bekannt kommt uns dann nach wie vor vieles vor, worüber unser Gedächtnis einmal verfügte, aber wir wissen nichts weiter darüber, es steht uns nicht mehr zu Gebote.

Am meisten wissen wir über unsere hypothetischen verschiedenen "Gedächtnisse" aus Amnesien: dem Ausfall nur bestimmter einzelner Funktionen nach einem Unfall, einer Erkrankung oder im Laufe des Alterungsvorgangs.

Wenn nach einem Gehirntrauma das Gedächtnis beeinträchtigt ist, so kann diese Amnesie umfassend oder auch sehr speziell sein, etwa dann, wenn ein paar Stunden wie ausgelöscht sind oder von allen Erinnerungen nur die an vertraute Gesichter versehrt ist. Auch bei der umfassendsten Amnesie aber weiß der Betroffene immer noch, wie man geht oder trinkt. Auch das aber sind Fertigkeiten, die er einmal mühsam gelernt hat. Die Bewegungsprogramme für den Körper, die unser Gehirn erwirbt, die bedingten Reflexe werden nicht vergessen, wie wir einen Namen vergessen. Wir können aus der Übung kommen, ja, aber wenn wir einmal Radfahren oder Schwimmen, Schlittschuhlaufen oder Klavierspielen gelernt haben, werden wir es nicht wieder völlig verlernen. Darum unterscheidet man heute ein prozedurales Gedächtnis, nämlich ein Gedächtnis für Bewegungsabläufe, von dem übrigen Gedächtnis, das sich dadurch auszeichnet, dass man über seine Inhalte reden kann, und das darum deklaratives Gedächtnis heißt.

Wer eine "Prozedur" lernen will, dem nützt es wenig, sich "Deklarationen" darüber anzuhören. Die Vorfahrtsregeln beim Windsurfen lernt man "deklarativ", aber wie man das Schaukeln des Brettes ausgleicht, einzig und allein durch Üben. Wie wir unsere Bewegungen zuwege bringen, zum Beispiel einen Volley beim Tennis, wie wir dabei Dutzende von einzelnen Muskeln in feinster Abstimmung dazu nötigen, sich im richtigen Maß und in der richtigen Millisekunde zusammenzuziehen oder zu dehnen, das wissen wir buchstäblich nicht, und wir können es durch noch soviel Introspektion auch nicht in Erfahrung bringen. Der Tenniscoach kann uns die Bewegung vormachen, er kann uns deklarativ klarmachen, worauf wir beim Üben achten sollten – aber lernen kann es unser Körper und durch Üben und Üben. Die beiden Gedächtnissysteme scheinen weitgehend voneinander unabhängig zu sein. Das prozedurale Gedächtnis ist stammesgeschichtlich älter. Es hat wohl auch seine eigene Biochemie und seinen eigenen Ort im Gehirn, den Hirnstamm und das Kleinhirn, während das deklarative Gedächtnis in der Hirnrinde und im Zwischenhirn zu suchen ist.

Auch das deklarative Gedächtnis darf man sich keineswegs als Monolithen denken. Es besteht aus mindestens zwei Systemen. Die Unterscheidung hat der amerikanische Psychologe Endel Tulving 1972 getroffen, und heute hält man sie allgemein für nützlich. In dem einen wird all unser mächtig vermischtes Wissen festgehalten: das semantische Gedächtnis (also das Gedächtnis für die Bedeutungen der Dinge). Das andere bewahrt die Erlebnisse der eigenen Lebensgeschichte. Wenn wir sagen, jemand habe "ein ganz hervorragendes Gedächtnis", dann meinen wir gewöhnlicht nicht, dass er viele früher gelernte Bewegungsabläufe immer noch beherrscht; wir denken dabei auch häufig nicht so sehr an die Fakten, die er aus seinem Gehirn hervorholen kann. Wir meinen vielmehr sein episodisches Gedächtnis, die detaillierten und anschaulichen Erinnerungen, die ihm an die Ereignisse seines Lebens geblieben sind.

Diese beiden Systeme existieren nicht unabhängig voneinander. Den "Episoden" entnehmen wir fortlaufend Wissen, das wir im semantischen Gedächtnis ablegen. Nach der Episode mit dem Radarblitz auf der Transitstrecke durch die DDR wissen wir, dass die Höchstgeschwindigkeit auf der dortigen Autobahn 100 Stundenkilometer beträgt, und wir wissen es wahrscheinlich auch dann noch sehr genau, wenn die Episode selbst nur noch eine blasse Erinnerung ist. Wenn wir umgekehrt unser Wissen über Tempolimits im Ausland zusammensuchen, fallen uns sofort gewisse unangenehme Episoden ein.

Alles Wissen wird unter bestimmten Umständen erworben, und oft hilft die Erinnerung an die Umstände, das Wissen wieder heraufzuholen. Dass ich noch weiß, wie ich die Bemerkungen über das phänomenale Gedächtnis des Dirigenten Arturo Toscanini (er kannte angeblich jede Note jedes Instruments in 250 symphonischen Werken und 100 Opern auswendig) zwischen den Regalen einer modernen und stillen Universitätsbibliothek gelesen habe, bringt mich darauf, dass sie vermutlich in dem Buch von Ulric Neisser stehen, das ich in Stanford gelesen habe. Erst durch eine spätere Nachrecherche aber komme ich darauf, dass die Bemerkung nicht von Neisser selber stammte, sondern aus einem Aufsatz von G. T. Marek in Neissers Buch.

Insgesamt aber wissen wir sehr viel mehr, als wir an bestimmten Episoden festmachen können. Wo und wann und wie wir unserem Gedächtnis einverleibt haben, dass Eisbären nur in der Arktis und Pinguine nur in der Antarktis anzutreffen sind, wüssten die meisten wohl kaum anzugeben.

In Marigold Lintons erwähntem Selbstversuch wurde auch deutlich, dass episodisches und semantisches Gedächtnis sich ungleich verhalten und darum wirklich zweierlei sein müssen. Je öfter eine bestimmte Situation sich wiederholt, desto besser "sitzt" das Wissen, das wir ihr entnehmen. Je öfter wir abends auf dem Flughafen von Saarbrücken ankommen, desto besser sind wir darauf vorbereitet, dort weder Busse noch Taxis vorzufinden. Aber je öfter sich ähnliche uninteressante Episoden wiederholen, um so mehr verschmelzen sie miteinander oder entschwinden uns ganz. Das episodische Gedächtnis ist am besten, wenn es mit einmaligen, dramatischen und wichtigen Vorfällen zu tun hat.

Die einzige Unterscheidung, die im Laufe der Jahre ins öffentliche Bewusstsein gesickert ist, ist die zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Aber man stellt sich gewöhnlich das Falsche darunter vor. Das Kurzzeitgedächtnis ist nicht, wofür es oft gehalten wird: eine vorläufige Vorratskammer für alles, was wir nach ein paar Tagen oder Wochen vergessen haben.

Jeder kann es immer wieder an sich selber beobachten. Wir schlagen eine Telefonnummer nach und wählen sie dann. Hat sie nur sechs oder sieben Stellen, so wird es uns gelingen, ohne dass wir zwischendurch noch einmal nachsehen müssen. Gehört aber auch noch eine mehrstellige Vorwahlnummer dazu, so werden wir sie wohl selbst für die wenigen Sekunden, die nötig wären, nicht komplett im Kopf behalten und müssen mehrmals nachsehen. Sogar die kürzere Zahlenreihe aber ist uns entfallen, wenn wir beim ersten Mal keinen Anschluss bekommen und nach einer halben Minute wieder wählen, es sei denn, wir hätten sie die ganze Zeit über still vor uns hin bewusst wiederholt.

Daraus folgt: Wir haben die Nummer beim Nachschlagen in unser Kurzzeitgedächtnis aufgenommen. Sein Inhalt ist identisch mit dem, was uns im Augenblick bewusst ist. Sobald wir abgelenkt werden, sobald etwas anderes unser Bewusstsein beansprucht, ist der Inhalt ausgelöscht. Ohne bewusste Rekapitulation hält er sich höchstens 18 bis 20 Sekunden, um dann zu verschwinden, als löse er sich in nichts auf.

Das Eigenartigste am Kurzzeitgedächtnis ist, dass nicht viel hineinpasst. Sieben ist seine geradezu magische Zahl. Es fasst etwa sieben Elemente (plusminus zwei): sieben Zahlen, sieben Buchstaben, aber auch sieben Wörter, die dann natürlich viel mehr als sieben Buchstaben haben werden. Die einzelnen Einheiten nämlich dürfen ruhig aus mehreren Bestandteilen bestehen, solange es uns nur gelingt, diese zu Sinneinheiten (sogenannten chunks) zusammenzufassen. Eine lange Zahlenreihe wie 28817492231832 überfordert mit ihren 14 Stellen jedes Kurzzeitgedächtnis. Aber sobald wir sie in die sechs chunks 28.8.1749-22.3.1832 zerlegen, sind wir sehr wohl in der Lage, sie zu wiederholen; und erst recht, wenn wir merken, dass es sich dabei um Goethes Lebensdaten handelt. Dies Wissen reduziert sie nämlich auf zwei chunks. Wenn uns angesichts unbehaltbar langer Telefon- oder Ausweis- oder Kontonummern keine bessere Art der chunk-Bildung einfallen will, bleibt als Notbehelf, sie in rhythmische Gruppen zu zerlegen: NULL-drei-null; EINS-zwei-drei; VIER-fünf-sechs. In dieser Form übersteht sie wahrscheinlich die Zeit vom Nachschlagen bis zum Hallo.

Mit der begrenzten Kapazität unseres Kurzzeitgedächtnisses müssen wir uns abfinden. Sie lässt sich nicht vergrößern, und wenn wir noch so viel trainieren. (Und das ist besonders bedauerlich, falls etwas Wahres an dem von manchen Wissenschaftlern geäußerten Verdacht sein sollte, die Intelligenz hänge unter anderem auch von der Geräumigkeit des Kurzzeitgedächtnisses ab.) 1980 berichtete der Pittsburgher Psychologe K. Anders Ericsson und zwei seiner Kollegen in Science von einem besonders aufopferungsvollen Versuch, die anscheinend ehernen Grenzen des Kurzzeitgedächtnisses zu sprengen. Ein Student übte unter Aufsicht anderthalb Jahre lang jeden Tag eine Stunde, um die Zahlenreihen, die er zu wiederholen imstande war, nach und nach zu verlängern. Am Ende schaffte er tatsächlich 79-stellige Reihen. Ein Gedächtniswunder? Eben nicht. Er hatte nur gelernt, die länger werdenden Zahlenkolonnen immer geschickter in chunks aufzuteilen. Seine Fähigkeit blieb auf Zahlenkolonnen beschränkt. Als man ihm statt der Zahlen Reihen von Buchstaben vorsprach, betrug seine Gedächtnisspanne wieder gänzlich unsensationelle sechs Elemente. Von einer Ausweitung seines Kurzzeitgedächtnisses konnte keine Rede sein. Hier scheint dem menschlichen Geist eine biologische Grenze gesetzt.

Dem eigentlichen Kurzzeitgedächtnis vorgeschaltet ist das sogenannte sensorische Register. Soll man es überhaupt zu den Gedächtnissen zählen? Es besteht einfach darin, dass die eintreffenden Sinneseindrücke einen kurzen Nachhall im Zentralnervensystem hinterlassen. Den "Nachhall" eines Bildes nennt man Ikon, den eines Tones Echo. Einen Fotoblitz sehen wir um ein Mehrfaches länger, als er tatsächlich dauert. Gäbe es das Ikon nicht, so erzeugte ein Film in uns nicht den Eindruck einer fließenden Bewegung, sondern würde als das gesehen, was er ist: eine ruckhafte Abfolge von 24 verschiedenen Bildern je Sekunde. Das Ikon ist nach höchstens einer Sekunde zerfallen; Echos halten sich ein wenig länger.

Sinnesinformationen überdauern das sensorische Register nur, wenn sie von hieraus ins Kurzzeitgedächtnis übernommen werden. Und das Kurzzeitgedächtnis überleben sie nur bei ihrer Aufnahme ins Langzeitgedächtnis. Auf diesem Weg wird vieles, ja das meiste ausgefiltert und spurlos gelöscht. Nur ein kleiner Teil der Informationen, die unsere Sinnesorgane ans Gehirn weitergeben, erreicht das Kurzzeitgedächtnis. Und nur ein kleiner Teil dessen, was das Kurzzeitgedächtnis passiert, wird im Langzeitgedächtnis deponiert – vor allem, was einen starken Eindruck auf uns macht, was uns gefühlsmäßig stark engagiert. So schützt sich unser Geistorgan vor der Überlastung mit einem belanglosen Informationsschwall und behält vorzugsweise das Bedeutsame.

Eine Alltagssituation: die Mutter muss eilig aus dem Haus und bittet den Sohn, noch einkaufen zu gehen. Und was? Zwischen Tür und Angel sagt sie, und dabei vergegenwärtigt sie sich, was sie auf den Tisch bringen will: "Kräuterbutter, Freilaufeier, Graubrot, Joghurt, Teewurst, Rosenkohl, Zucker, Nescafe, O-Saft und ein Paradieschen". Für den Jungen, der nicht weiß, was sie vorhat, ist es nichts als eine sinnlose Aufzählung. Kaum ist die Tür zu, versucht er sie sich zu notieren, Butter und Eier fallen ihm ein, sowie der Orangensaft und die Radieschen. War Mehl dabei? Zucker? Er bringt es nicht mehr zusammen. Er ist Opfer des "Serienpositionseffekts" geworden: Von längeren Listen merken wir uns am ehesten Anfang und Ende; die Mitte jedoch entfällt uns. Heute erklärt man das damit, dass der Anfang der Liste Gelegenheit hatte, bis ins Langzeitgedächtnis vorzudringen, während wir ihr Ende noch im Kurzzeitspeicher präsent haben. Dass es sich wirklich so verhält, bestätigt ein simpler Versuch. Wird derjenige, der sich die Liste merken soll, gleich darauf abgelenkt, so ist ihm nur noch der Listenanfang gegenwärtig; den Kurzzeitspeicher mit dem Listenende hat die Ablenkung gelöscht.

Gewöhnlich stellt man sich vor, die drei Speicher bildeten eine Kette, die entlang die Informationen weitergereicht werden: aus dem sensorischen Register ins Kurzzeitgedächtnis (die bewusste Wahrnehmung) und von dort gegebenenfalls weiter ins Langzeitgedächtnis. Aber es gibt Hirnerkrankungen, bei denen das Kurzzeitgedächtnis zusammenbricht, das Langzeitgedächtnis jedoch intakt bleibt. Vielleicht also werden die verschiedenen Speicher doch unabhängig voneinander angesprochen.

Auf jeden Fall aber ist der Gedanke naheliegend und sehr verlockend, dass die beiden kurzen bewussten Arbeitsgedächtnisse auf einem Zustand elektrischer Erregung beruhen, das Langzeitgedächtnis aber auf materiellen Veränderungen im Zentralnervensystem. Ein elektrischer Erregungszustand klingt ab, ohne Spuren zu hinterlassen. Die bleiben erst zurück, wenn die elektrische Erregung strukturelle Veränderungen hervorgebracht hat.

Genauso ist es beim Computer. Sein Zentralspeicher ist gleichsam sein "Arbeits"-Gedächtnis. In ihm befinden sich die Daten, die er gerade bearbeitet, neu hereinkommende wie solche, die er sich aus diversen Speichern abruft. Seine Kapazität ist begrenzt, er ist rein elektrischer Art und damit sehr labil – ein Tastendruck, ein Umschalten auf ein anderes Programm, ein Stromausfall kann die Daten im Nu allesamt löschen. Um ihnen Dauer zu verleihen, müssen sie einem externen Speicher (einer Magnet- oder Laserplatte, einem Magnetband) eingeschrieben werden. Es scheint, die Ingenieure sind vor einem ähnlichen Problem auf eine ähnliche Lösung verfallen wie die Natur. Aufgehoben wird nicht alles, sondern nur, was in Zukunft möglicherweise noch einmal gebraucht wird. Damit nicht jede Entscheidung behindert wird durch den Andrang unabsehbarer Massen von Daten, die nichts mit ihr zu tun haben, werden jeweils nur ein paar relevante abgerufen. Die praktischen Vorteile einer solchen Aufteilung sind offensichtlich. Ihr Risiko besteht darin, dass voreilig gelöscht wird, was vielleicht doch noch gebraucht wird, oder dass man in den großen Langzeitspeichern eine benötigte Information nicht oder nicht schnell genug auffindet.

Eine Langzeiterinnerung ist nicht gleich fix und fertig. Ihre Spur muss erst gesichert, "konsolidiert" werden. Die Konsolidierang einer Episode dauert so lange, wie auch Teile von ihr vergessen werden – es können Jahre sein. Was eines Tages vollständig konsolidiert ist, bleibt aber dann auch nahezu unvergesslich. Das jedenfalls hat man aus den zeitlich abgestuften Amnesien geschlossen. Bei der Elektroschockbehandlung zum Beispiel löscht der Stromstoß nicht alle Erinnerungen, auch nicht die Erinnerungen bestimmter Art (die unangenehmen oder die akustischen oder die numerischen) – er löscht die Erinnerungen für verschieden lange Zeiträume vor der Behandlung, vielleicht nur Minuten oder Stunden, manchmal aber auch sehr viel länger. Erinnerungen an Fernsehsendungen wurden nach Elektroschocks für die zurückliegenden ein bis zwei Jahre beeinträchtigt; die Sendungen davor blieben normal erinnerlich. Wenn die Erinnerungen nach einem Gehirntrauma wieder zurückkehren, kommen sie in Form einzelner Erlebnisinseln, erst die am weitesten zurückliegenden, dann immer jüngere, bis im günstigsten Fall die gesamte Zeit wieder ausgefüllt ist. Man muss also annehmen, dass ein bestimmtes Trauma – ein Stromschlag, eine Gehirnerschütterung – immer nur die Erinnerungen bis zu einem gewissen Grad der Konsolidierung in Mitleidenschaft zieht. Die ausreichend fest verankerten überleben. Das Gedächtnis wird also offenbar ständig reorganisiert, ist, ohne dass wir davon etwas merkten, in einem fort in Bewegung es lebt.

Im Alter, weiß man, wird das Gedächtnis leider schlechter. Aber es hat sich herausgestellt, dass das sensorische und das Kurzzeitgedächtnis nur ganz wenig von ihrer Leistungsfähigkeit einbüßen. Was wirklich schlechter wird, ist das Langzeitgedächtnis. Woran genau das liegt, ist nicht bekannt. Vielleicht daran, dass im Gehirn überall Neuronen absterben, sodass nach und nach alle Gedächtnisspuren geschwächt werden. (Tag für Tag verliert das Gehirn etwa 100.000 Nervenzellen. Nach 70 Jahren sind 20 Prozent von ihnen tot.) Vielleicht liegt es daran, dass sich im Alter alle Lebensvorgänge und auch alle geistigen Prozesse verlangsamen. Vielleicht ist der Grund, dass die Aufmerksamkeit allgemein nachlässt und darum von vornherein weniger eingespeichert wird. Jedenfalls ist der einzige Trost, dass die individuellen Unterschiede groß sind. Vielleicht also wird es einen selber nicht ganz so schlimm treffen?

Sonderbarerweise hat die Psychologie nicht bestätigt, was jedermann aus eigener Beobachtung genau zu wissen meint: dass im Alter die frühen Erinnerungen, die Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend, besonders lebhaft bleiben, während das spätere Leben immer mehr im Dunkel des Vergessens versinkt. Schon 1881 erklärte der Pariser Philosoph T.A. Ribot es geradezu zum Naturgesetz: dass die jüngsten Erinnerungen zuerst, die ältesten zuletzt abgebaut werden. "An meine ferne Vergangenheit, an meine Kindheit, meine Jugend, habe ich vielfältige und genaue Erinnerungen ... Ich weiß, es taucht plötzlich wieder auf ... Dagegen spüre ich manchmal heftige Unruhe, ja sogar Angst, wenn ich mich eines Vorfalls der jüngsten Vergangenheit nicht mehr entsinnen kann", schrieb der große spanische Filmregisseur Luis Buñuel. Und das sollte eine Täuschung sein? Ein Volksmärchen? Vielleicht waren die psychologischen Experimente zu dieser Frage nicht "naturalistisch" genug und sind darum am Wesentlichen vorbeigegangen. Aber vielleicht liegt die scheinbare Stabilität der frühen Erinnerungen wirklich nur daran, dass wir sie im Laufe des Lebens häufiger als die späteren rekapituliert haben, sodass es am Ende jene sind, die am besten "sitzen".

Ich vermute, dass hier stark auch die Motivlage hineinspielt. Vielleicht mögen wir unsere frühen Erinnerungen einfach mehr und rufen sie uns darum öfter und lieber zurück. Es sind schließlich die Erinnerungen an die Jahre, als die Welt für uns noch frisch und neu und farbenfroh war und als jeder Tag eindrucksvolle Überraschungen bot.

 

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