»Startseite

Vladimir Nabokovs Gesammelte Werke

Vortrag von Dieter E. Zimmer

 

Datum: Montag, 25. Mai 1992, 20 Uhr

Ort: München, Gasteig / Bibliothekssaal

Veranstalter: Buchhandlung Amalienstraße 47

 

ZU BEGINN von solchen Veranstaltungen wie dieser weiß ich als Zuhörer immer gern, was mich erwartet und wie lange es dauern wird. In der Annahme, daß es Ihnen genauso geht, sage ich kurz, was Ihnen heute abend bevorsteht.

 Zunächst werde ich selber einiges über Vladimir Nabokov und die im Rowohlt Verlag seit drei Jahren erscheinende Werkausgabe sagen. Das wird etwa eine Dreiviertelstunde dauern. Dann wird Christoph Buchwald einen Text von Nabokov lesen. Dauer: etwa zehn Minuten. Und schließlich wollen wir uns gemeinsam ein Fernsehinterview mit Nabokov ansehen, das fünf Jahre vor seinem Tod gemacht wurde; vorher werde ich noch ein paar Sätze zu Nabokovs eigenartiger Interviewtechnik sagen. Zusammen macht das gut eindreiviertel Stunde.

               Und noch etwas zu Ihrer Orientierung vorweg, nämlich ein paar Daten. Der Autor, um den es heute abend gehen soll, Vladimir Nabokov also, wurde 1899 in St. Petersburg geboren, in einer wohlhabenden und angesehenen alten Familie. Der Vater war Rechtswissenschaftler, Publizist, liberaler demokratischer Politiker, der zaristischen Aristokratie ebenso feind wie später den Bolschewisten, und sein Sohn sollte es zeitlebens genauso halten. Gleich nach der Oktoberrevolution verließ die Familie die Heimatstadt, die inzwischen Petrograd hieß, und 1919 floh sie von der Krim nach Westeuropa. Vladimir Nabokov studierte am Trinity College in Cambridge russische und französische Literatur und kam 1921 nach Berlin, wo sich seine Familie im Exil niedergelassen hatte. Im nächsten Frühjahr wurde der Vater hier, bei einer politischen Veranstaltung in der Philharmonie, von zwei rechtsradikalen Rowdys erschossen. In Berlin begann Nabokov ernsthaft mit dem Schreiben, zunächst russisch − Gedichte, Rezensionen, Essays, Kurzgeschichten und ab 1925 dann Romane. Von den winzigen Honoraren, die Emigrantenpresse und -verlage zahlten, konnte er nicht leben; so hielt er sich mit Privatstunden über Wasser: Russisch, Englisch, Tennis, Boxen. 1925 heiratete er eine russische Jüdin aus Petersburg. Sie blieben bis 1937 in Deutschland, verzogen sich dann vor den Nazis nach Frankreich und flohen 1940, kurz vor der deutschen Invasion, weiter nach Amerika. Von jetzt an schrieb er englisch; den sehr schweren Entschluß zum Wechsel seiner Sprache hatte er schon zwei Jahre vorher in Frankreich gefaßt. Er unterrichtete an amerikanischen Universitäten russische Sprache und europäische Literatur, hatte als Lepidopterologe einen Forschungsauftrag am Museum der vergleichenden Zoologie der Harvard Universität, war von 1948 bis 1959 Professor an der Cornell-Universität, wurde 1945 amerikanischer Staatsbürger und kehrte 1959 nach Europa zurück. Die letzten fünfzehn Jahre lebte er mit seiner Frau im Palace Hotel in Montreux. Dort starb er 1977, dort ist er bestattet. All die Jahre im Exil schrieb Nabokov unausgesetzt: Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Gedichte, Übersetzungen, Schriften zur Literatur − ein umfangreiches und vielseitiges Oeuvre. Seinen Kern bilden siebzehn Romane, neun russische, acht englische. Einer davon machte ihn dann fast mit einem Schlag weltberühmt: «Lolita», 1955 in Paris, 1958 in den Vereinigten Staaten veröffentlicht. Der Skandalerfolg damals war natürlich ein Mißverständnis, aber ein nützliches, denn ohne ihn hätte es wahrscheinlich noch lange gedauert, bis die Welt auf Nabokovs Werk aufmerksam geworden wäre, das dreißig Jahre vor «Lolita» und in der Sprache eines Landes begonnen hatte, in dem bis zehn Jahre nach seinem Tod keine Zeile von ihm gedruckt werden durfte. Insofern ist Nabokov ganz und gar ein Schriftsteller dieses Jahrhunderts: ein Emigrant, ein Flüchtling, ein Autor zwischen den Staaten und Sprachen, schwer einzusortieren, an vielen Orten zu Hause und an keinem.

               Als ich mir überlegte, worüber ich heute abend wohl am besten sprechen könnte, kam ich bald zu dem Schluß, daß ich gar nicht erst den Versuch machen sollte, ein großes Gewässer in ein Tintenfaß abzufüllen, also über Nabokov im allgemeinen und großen und ganzen zu sprechen. Man soll immer über das reden, wovon man das meiste zu verstehen glaubt und was einem am nächsten ist, und das ist in meinem Fall die Nabokov-Ausgabe des Rowohlt Verlags, deren Herausgeber ich bin. Über die möchte ich also sprechen. Werkstattgeplauder wird es wohl oder übel nicht, denn in der Werkstatt geht es vor allem um einzelne Wörter oder Sätze, die so oder anders lauten oder lauten könnten; und das läßt sich mündlich kaum so darstellen, daß jemand es nachvollziehen könnte. Ich hoffe aber, daß bei der Vorstellung der Ausgabe auch die eine oder andere allgemeine An- und Einsicht abfällt.

               Die Werkausgabe also. Sie wird vom Verlag mit altmodischer Sorgfalt hergestellt und ist für ihn darum ein teures Unternehmen, das auf absehbare Zeit ein Zuschußgeschäft bleiben wird, übrigens nicht, weil die Herausgeber- und Übersetzerhonorare so hoch wären, sondern weil sie sich natürlich nicht eben schnell verkauft und alle Bände während der gesamten Erscheinenszeit und danach ständig verfügbar gehalten werden müssen. Die Umsicht des Verlags ging so weit, daß er Papiere gewählt hat, die bis zum Ende noch in genau dem gleichen Farbton zur Verfügung stehen und sich in all den Jahren nicht verfärben sollen. Sie erscheint seit 1989. Bisher liegen acht Bände vor, in diesem Herbst kommt ein weiterer hinzu, der Band 2 mit den frühen russischen Romanen «Lushins Verteidigung», «Der Späher» und «Die Mutprobe». Alles in allem sollen es vierundzwanzig Bände werden. Wir hatten gehofft, jedes Jahr mindestens zwei, besser drei Bände fertig zu bekommen, so daß die ganze Ausgabe bis 1996 komplett gewesen wäre. Leider war das zu optimistisch geplant. Die Schwierigkeiten sind teilweise wesentlich größer als erwartet, und im Augenblick wage ich gar keine Prognose mehr. Es hängt davon ab, wann der Verlag von den Erben welche Rechte bekommt, ob die zahlreichen Übersetzer pünktlich sind − und nicht zuletzt davon, wieviel ich selber schaffe, denn die Herausgabe ist für mich nicht der Beruf, von dem ich lebe, sondern eine Nebenbeschäftigung, fast hätte ich gesagt: mein Hobby.

               Die erste Frage ist natürlich, ob es sich denn überhaupt lohnt: ob das Werk von Nabokov eine solche große Anstrengung wert ist. Früher war es nahezu selbstverständlich, daß jedem Autor von einiger Bedeutung irgendwann eine ordentliche Werkausgabe zuteil wurde. Heute sind solche Ausgaben bei nicht deutsch schreibenden modernen Autoren eine Seltenheit geworden. Es gibt die Sartre- und die Jouhandeau-Ausgabe des Rowohlt-Verlags, die Joyce- und die Beckett-Ausgabe bei Suhrkamp, die Borges-Ausgabe bei Hanser; zur Zeit erscheint bei S. Fischer die Virginia-Woolf-Ausgabe. Viel mehr sind es nicht, und das hat genau den Grund, den auch jeder auf Anhieb vermuten würde: Solche Unternehmungen sind kostspielig, binden Kapital auf lange Zeit, übrigens auch Arbeitskraft, und es entstehen dabei nie jene Bücher, die dann dutzendweise an den Ladenkassen liegen, zum Beispiel, weil ihre Autoren in den Talkshows Reklame für sie machen.

               Gelegentlich werde ich also gefragt, warum es diese aufwendige Nabokov-Ausgabe des Rowohlt Verlags eigentlich geben muß. Und wenn ich den Tonfall dieser Erkundigungen richtig gedeutet habe, verbergen sich dahinter zwei ganz verschiedene Fragen. Die eine lautete wie mir schien so: War es nötig? War das, was der Rowohlt Verlag bis dahin in Sachen Nabokov getan hatte, denn so unbefriedigend, daß dieser neue Anlauf unternommen werden mußte? Die zweite Frage lief auf etwas anderes hinaus. Nämlich: Verdient Nabokov eine solche Ausgabe?

               Ich will zunächst auf die letzte Frage eingehen. Wer so fragt, gehört meist zu jenen, die irgendwann einmal auf das «Lolita»-Mißverständnis hereingefallen sind. Der Autor, dem einmal ein Weltbestseller gelungen ist, welcher ihn für eine Weile ins grelle Scheinwerferlicht der Medien gezerrt hat, muß dafür büßen, indem ihn viele danach nicht mehr ganz ernst nehmen. Und zwar nimmt man ihm, glaube ich, gleich zweierlei übel: daß er einen Bestseller geschrieben, also Anklang auch bei Lesern gefunden hat, die eigentlich − wie soll ich sagen − der Literatur ferner stehen; und daß seine anderen Bücher nicht ebenfalls solche Bestseller waren. Solch ein Werk nimmt sich dann, aus der Ferne, zumindest irgendwie ungleichmäßig aus, so als hätte sich der Autor einmal kompromittiert, oder als hätte er sich immer kompromittieren wollen, aber es sei ihm nur einmal gelungen. Es ist ein Vorurteil, das nur korrigiert werden könnte, wenn man das Werk selber läse und sich von seiner Kontinuität überzeugte, aber gerade das verhindert ein solches Vorurteil ja. Der Fall Nabokovs ist der, daß er vor der «Lolita» über dreißig Jahre lang ein überaus respektierter, teilweise auch befehdeter Autor gewesen war, jedoch bei einer Leserschaft, die nirgends zu Hause war und nach der sich niemand richtete, nämlich bei den Exilrussen Westeuropas, die nach der Revolution noch für ein paar Jahre in Berlin, Prag und Paris konzentriert waren, sich dann aber in alle Winde zerstreuten.

               Auf die Frage, ob Nabokovs Werk eine solche Ausgabe verdient, würde ich am liebsten eine persönliche Antwort geben und davon sprechen, daß ich es aus meinem eigenen Leben nicht wegdenken könnte, daß es in den über drei Jahrzehnten, die ich darin gelesen habe (und als Übersetzer und Herausgeber liest man einen Text ja oft und intensiv), nicht das mindeste von seiner Frische eingebüßt hat, daß ich es zwar kenne, aber immer noch nicht behaupten kann, ich kennte und durchschaute es ganz. Das aber, ich weiß, ist keine Antwort. Darum sage ich es besser objektiver. Ich halte Nabokov für einen Klassiker der Moderne. Und damit meine ich ganz einfach einen Autor, der bewiesen hat, daß er auch noch in der nächsten und übernächsten Büchersaison Leser findet, der dem Strudel, der die allermeisten Bücher spätestens nach dem nächsten großen Wechsel des Zeitgeschmacks in den Orkus spült, bisher erfolgreich widerstanden hat, der Maßstäbe gesetzt hat, an denen sich andere Autoren orientieren, und dem man es zutraut, daß sein Werk noch eine ganze Weile lebendig sein wird. Damit nun das nicht auch eine möglicherweise leere private Behauptung bleibt, muß es sich an irgendwelchen Fakten festmachen lassen. Das läßt es sich auch, allerdings nur, wenn man den Blick ins Ausland schweifen läßt.

               Auch in anderen Ländern erscheinen heute Nabokov-Werkausgaben. Eine einzige hätte wenig zu sagen, könnte die private Marotte eines Verlegers sein. Daß viele dergleichen riskieren, heißt: international wird auf die Dauerhaftigkeit dieses Werks gewettet. In den Vereinigten Staaten, einem Land der notorisch kurzlebigen Bücher, wo die Neuerscheinungen ein paar Wochen lang massenhaft feilgeboten werden und dann zum größten Teil für alle Zeiten in der Versenkung verschwinden, aus der sie auch auf Bestellung nicht mehr zurückkehren, und wo es sogar schwer fiele, anständige Werkausgaben selbst der Klassiker der eigenen Literatur des letzten Jahrhunderts zu finden − Melville, Poe, Hawthorne, Mark Twain −, ist das Werk Nabokovs in der grauen Paperback-Edition der Vintage Books in den meisten Buchhandlungen nach wie vor fast vollständig präsent. Außerdem hat in Amerika eine Werkausgabe in russischer Sprache begonnen, gebundene Bände, sorgfältig ediert. In Frankreich bereitet der Verlag Gallimard einige Nabokov-Bände in seiner berühmten Klassikerbibliothek «Pléiade» vor. In Italien begann die wunderschöne Nabokov-Edition im Verlag Adelphi. Rußland ist ein Kapitel für sich. Bis 1986 durfte kein Wort von Nabokov gedruckt werden. Seitdem überschlagen sich die Ausgaben, einige ohne Erlaubnis und sehr schlampig gemacht oder nach wie vor zensiert, andere um so sorgfältiger. Es gibt dort inzwischen mindestens eine Nabokov-Gesellschaft, es finden Kongresse statt, es gibt Fernsehsendungen über Nabokov, seine Stücke und schnell hergestellte Dramatisierungen seiner Romane werden in Theatern und Parks gespielt, das schloßartige Landhaus, das Nabokov mit siebzehn Jahren von einem Onkel erbte und in der Revolution sofort wieder verlor, ist inzwischen ein Nabokov-Museum, im Petersburger Stadthaus der Familie Nabokov, in dem seit der Revolution Behörden untergebracht waren, sollen eine Bibliothek der Exilliteratur und eine Gedenkstätte eingerichtet werden, es gibt einen regen Nabokov-Tourismus, und Nabokovs Sohn Dmitri, der dem Beispiel seines Vaters gefolgt ist und seinen Fuß bisher nicht auf russischen Boden gesetzt hat, erzählte mir, man habe ihm versprochen, daß er dort empfangen würde wie der Sohn Puschkins.

               Zum anderen läßt sich einiges über den Status eines Schriftstellers ablesen an dem, was über ihn geschrieben wird und wie stark er die Literaturgeschichte und die Literaturwissenschaft interessiert. Meine private Formel lautet: wenn die Sekundärliteratur über einen Autor sein Werk an Umfang eingeholt hat und zu übertreffen beginnt, gehört er wohl der Literaturgeschichte an. Die Nabokov-Literatur ist inzwischen ein paarmal so umfangreich wie das Werk, dem sie gilt, und das will in diesem Fall viel heißen, denn es ist ja kein schmales Werk. Auch da muß man allerdings ins Ausland blicken. In Deutschland gibt es ein paar Dissertationen, das ist alles. In Amerika erschienen zweieinhalb Biographien, zuletzt die zwei akribischen monumentalen Bände von Brian Boyd, tausenddreihundert Seiten lang. Ihr Autor stammt übrigens aus Nordirland, hat seine Ausbildung in Kanada absolviert und ist heute Professor in Neuseeland. In Amerika wurde von Michael Juliar eine dritte Nabokov-Bibliographie erarbeitet, achthundert Seiten mit ein paar hundert Seiten Nachträgen, und da ich selber vor langer Zeit einmal die erste, noch recht dünne zusammengestellt habe, kann ich sagen: das ist keine Kleinigkeit bei einem Werk, das ursprünglich zu großen Teilen in schwer zugänglichen, verschollenen oder gänzlich verlorenen russischen Emigrantenzeitungen und -zeitschriften erschienen ist. Ebenfalls ein ganzes Buch für sich ist ein Verzeichnis der Sekundärliteratur, das nur den Nachteil hat, inzwischen dreizehn Jahre alt und damit überholt zu sein, aber irgendwann wird bestimmt ein aktuelleres kompiliert. Seit 1977 erscheint im amerikanischen Mittelwesten zweimal jährlich eine Zeitschrift der Nabokov-Forschung. Ich zähle sechzehn Festschriften, Sonderbände und Themenhefte speziell über Nabokov, und ich zähle nicht weniger als vierundvierzig Monographien, die ihm gewidmet sind. Die einzelnen Artikel zu zählen, habe ich nicht einmal versucht. Die Autoren sind Professoren vor allem in den Vereinigten Staaten, aber auch in England, Frankreich, Finnland, Israel, Indien, Australien und neuerdings Rußland. Es handelt sich also um eine «dynamische Industrie», wie jemand einmal gesagt hat, und das Schöne daran ist, daß nichts davon so etwas wie das letzte Wort ist, daß Nabokovs Werk gar kein letztes Wort erlaubt, daß es dort immer weiter Neues zu entdecken geben wird.

Nabokov haßte alle Arten von Verallgemeinerungen und liebte das konkrete Detail; sein Werk mit formelhaften Verallgemeinerungen zu belegen, ist entsprechend schwer. Unter den Autoren, die auf die eine oder andere Weise Nabokov ihre Reverenz erwiesen haben, sind der russische Lyriker Wladislaw Chodassewitsch, seine einstige Weggefährtin Nina Berberova, der Romancier Andrej Bytow und so verschiedene Autoren wie Graham Greene, John Updike, Mary McCarthy, Bobbie Ann Mason, Erica Jong, Mario Vargas Llosa − und viele andere.

               Nun zum anderen Teil der Frage: War es so unbefriedigend, wie Nabokovs Werk in Deutschland vorher behandelt wurde? Natürlich halte ich keineswegs für schlecht, was der Rowohlt Verlag in nunmehr zweiunddreißig Jahren (1959 erschien «Lolita» auf deutsch) für Nabokov getan hat. Er hat immer wieder auch solche Bücher von ihm verlegt, die nie ein kommerzieller Erfolg zu werden versprachen – und die dann auch nicht wider Erwarten zu einem wurden. Er hat Nabokov auch durch die späten sechziger und frühen siebziger Jahre hindurch die Treue gehalten, als das keineswegs fashionable war, als der Zeitgeist Nabokov besonders in Deutschland höchst ungemütlich ins Gesicht blies – denn der ließ sich nicht nur nicht als ein wie auch immer gearteter Sozialist und Revolutionär hinstellen, er war immer ein erklärter Gegner jeder Literatur, die hauptsächlich oder ausschließlich politische Ziele verfolgt. Ich muß sogar betonen, daß es die Werkausgabe jetzt nur darum geben kann, weil eben nicht alles Vorhergegangene schlecht war. Wäre es schlecht gewesen, so könnten wir jetzt nicht in vielen Fällen auf die in den letzten drei Jahrzehnten entstandenen deutschen Übersetzungen zurückgreifen, und das Ganze überstiege bei weitem die Kräfte selbst des kräftigsten Verlages.

               Es gab aber auch Defizite. Vor allem gab es Lücken. Die größte rührte daher, daß der von mir verehrte und geliebte Heinz Ledig-Rowohlt zwar von Anfang an eine große Schwäche für Nabokov hatte und mit ihm dann bis zuletzt befreundet blieb, Literatur über Literatur aber einfach nicht mochte. So hatte er es gar nicht eilig, wenigstens den von Nabokov selber zusammengestellten Sammelband «Strong Opinions» (Deutliche Worte) übersetzen zu lassen, der eine Reihe seiner Interviews und literarischen Schriften enthält; er fehlt bis heute. So gab es auf deutsch weder Nabokovs «Gogol»-Buch noch seinen Briefwechsel mit dem amerikanischen Kritiker Edmund Wilson. Und so überließ er sogar die postum veröffentlichten drei Bände mit Nabokovs literarischen Vorlesungen der Konkurrenz. Es fehlte − und fehlt bisher noch immer − auch Nabokovs anspruchsvollster russischer Roman «Dar»/«The Gift»/«Die Gabe», der den Übersetzer vor große Probleme stellt. Es fehlte die Mehrzahl der Erzählungen. Es fehlen alle dramatischen Texte, alle Gedichte, alle Briefe und natürlich auch die wissenschaftlichen Arbeiten und die Schachprobleme. Insgesamt also erhielt der deutsche Leser nur ein ziemlich einseitiges Bild.

Ein anderes Defizit bestand darin, daß die Übersetzungen zum Teil doch zu wünschen übrig ließen. Im Fall von Nabokovs zweitem Roman, «König Dame Bube», war in aller Eile einfach die alte Übersetzung aus den zwanziger Jahren nachgedruckt worden, um gleich nach dem «Lolita»-Erfolg mit einem weiteren Nabokov-Titel aufwarten zu können. Sie stammte aus einer Zeit, als noch ganz andere und wesentlich laxere Übersetzungs-Standards im Schwange waren; außerdem war sie auch darum unbefriedigend, weil Nabokov den Roman bei der Übersetzung ins Englische gründlich umgeschrieben hatte.

Ein drittes Defizit schließlich schien mir darin zu bestehen, daß die deutschen Ausgaben nichts sichtbar machten von all der detektivischen Philologenarbeit, deren Gegenstand Nabokov war und ist, während es in Amerika zwei ganze Bände mit Anmerkungen nur zu «Lolita» und einen anderen nur zu «Pnin» gibt oder einen ganzen Haufen Untersuchungen nur zu der künstlichen Sprache in «Fahles Feuer».

               Diese drei Defizite sind es, die die Werkausgabe nun wettmachen soll.

               Inzwischen sind zwei Bände mit nunmehr sämtlichen Erzählungen erschienen. Sie enthalten sogar die teils unveröffentlichten Jugenderzählungen, die als separater Band dann auch in Frankreich publiziert wurden und die es sonst bisher in keiner Sprache gibt, auch nicht auf russisch, auch nicht auf englisch. Inzwischen gibt es das Buch über Gogol. Und wenn nicht noch unerwartete Komplikationen auftreten, wird im nächsten Jahr hoffentlich der Band mit Nabokovs «Deutlichen Worten» und der Roman «Die Gabe» erscheinen. Dessen eigentlicher Gegenstand ist die russische Literatur, und da unsere Fassung einen umfangreichen Kommentar der Übersetzerin enthalten wird, wird es die erste Ausgabe auf der Welt sein, die das Buch auch nichtrussischen Lesern erschließt.

               Anmerkungen enthalten auch die neuen Ausgaben von «Lolita», von «Einladung zur Enthauptung», von «Das Bastardzeichen», und später werden auch «Pnin», «Fahles Feuer», «Ada» und die letzten Romane welche bekommen. Es handelt sich da nicht um Interpretationen. Die sollen dem Leser überlassen bleiben. Es handelt sich allein darum, wenigstens einer Teil der unzähligen meist literarischen Anspielungen zu dechiffrieren, von denen es besonders in Nabokovs späteren Werken wimmelt und die selbst sehr belesenen Spürnasen entgehen müßten, da sie sich auf viele verschiedene Sprachen beziehen und sich die Spuren bei der Verpflanzung von einer in die andere notwendigerweise verwischen. Man liest zum Beispiel das Todesurteil in Gedichtform, das Humbert Humbert für seinen Rivalen Claire Quilty geschrieben hat («Dieweil du Vorteil zogst aus einem Sünder / Dieweil du Vorteil zogst / Dieweil du zogst ...»), durchaus anders, wenn man weiß, daß es eine Persiflage auf ein Gedicht von T. S. Eliot ist, «Ash Wednesday» («Because I do not hope to turn again / Because I do not hope / Because I do not hope to turn...»); weiß man das nicht, so versteht man auch nicht, warum Quilty es so spöttisch vorliest, obwohl er sich in seiner Lage Spott nicht leisten kann − da geht selbst kurz vor der Hinrichtung wieder einmal der mit allen Wassern gewaschene Literat mit ihm durch.

               Und schließlich werden alle alten Übersetzungen wo nötig überarbeitet, manche wenig, andere stark, ein paar so stark, daß sie kaum wiederzuerkennen sein dürften. Bisher war das bei «Lolita» und bei «Lushins Verteidigung» der Fall. Bei ein paar wäre Hopfen und Malz verloren. So ist «König Dame Bube» ganz neu übersetzt worden, und «Pnin» wird es ebenfalls werden.

               Sie sehen, es ist ein großes Pensum, eins zumal, bei dem viele einander zuarbeiten müssen und es manche Überraschung geben kann. Dabei soll es keineswegs eine wissenschaftliche Ausgabe werden, sondern durchaus eine Leseausgabe, mit zuverlässigen Texten, kompakt, gefällig präsentiert, leicht benutzbar, für den normalen Leser gemacht und nicht für den Philologen mit seinen spezielleren Interessen, die sich ja ohnehin nicht anhand von Übersetzungen, sondern nur anhand der Originalausgaben befriedigen lassen.

               Welches sind nun die größten Probleme?

               Irgend jemand hat einmal richtig bemerkt, daß Nabokov sprachlich zwar schwierig, aber nicht so schwierig sei wie etwa Joyce; dafür stünden alle, die sich an und mit seinem Werk zu schaffen machen, vor dem Problem seiner Vielsprachigkeit. Nabokov hat seine Jugend in Rußland verbracht, begann auch noch vor der Revolution in Rußland zu schreiben, Gedichte, epigonale Gedichte, wuchs aber in einer polyglotten Familie auf, die besonderen Wert auf die englische Sprache und auf englische Traditionen legte. Er hat englische Bücher früher gelesen als russische. Um das Englische zu ergänzen, stellten seine Eltern eine französischsprachige Kinderfrau ein, mit der er von Kleinauf französisch sprach und die ihm französische Literatur vorlas. Er beherrschte also schon als Kind drei Sprachen fließend, Russisch, Englisch und Französisch. Auf der Schule kam dann noch Latein hinzu. In Deutschland war er nicht gerne, las keine deutschen Bücher und Zeitungen, hatte wie die meisten Exilrussen wenig Umgang mit Deutschen, lernte also auch nie systematisch Deutsch; aber im Laufe seiner fünfzehn Jahre in Berlin sammelte sich doch einiges Deutsch an, und als junger Mann hatte er ein paar Heine-Gedichte ins Russische übersetzt. Die Frage, wieviel Deutsch er konnte, ist insofern von Belang, als immer wieder behauptet wurde, sein Roman «Einladung zur Enthauptung» wirke kafkaesk und sei unter dem Eindruck von Kafka entstanden. Tatsächlich war Kafka später einer der wenigen Autoren, von denen Nabokov sehr viel hielt; aber 1934 hatte Nabokov noch nichts von ihm gelesen, wie sein Biograph bestätigt.

               Die erste Hälfte seines Werks ist auf russisch geschrieben, die zweite auf englisch. Dazwischen, in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, als er wußte, daß er sich vom Russischen verabschieden müsse, experimentierte er auch mit Französisch, schrieb zwei französische Erzählungen und zwei Essays. Die russischen Romane und viele der russischen Erzählungen wurden später ins Englische übersetzt, teils von ihm selber, teils unter seiner Aufsicht, und einige von ihnen veränderten sich dabei ganz erheblich, vor allem «König Dame Bube», «Gelächter im Dunkel» und «Verzweiflung». Von diesem Roman gibt es sogar zwei englische Fassungen vom Autor selber, eine von 1937, eine von 1966. Andererseits hat er «Lolita» später selber aus dem Englischen ins Russische übersetzt. Es war ein Akt der Prophylaxe. Damals bestand nicht die geringste Aussicht, daß das Buch in Rußland erscheinen könnte, und noch 1986 wurde ein Russe, der es weitergegeben hatte, zu drei Jahren Zwangsarbeit verurteilt; aber er wußte, daß es eines fernen Tages in seiner Heimat gelesen werden könnte, und er fürchtete, daß es dann von irgendeinem Übersetzer verhunzt würde. Eins seiner Bücher hat sogar eine Wanderung durch vier Sprachgestalten hinter sich, seine Memoiren «Erinnerung, sprich». Sie begannen auf französisch, wurden dann auf englisch neu geschrieben, mit vielen Veränderungen und Ergänzungen ins Russische übertragen und schließlich aus dieser Fassung mit vielen weiteren Veränderungen ins Englische zurückübersetzt.

               In der Werkausgabe legen wir jetzt die letzten von Nabokov selber bearbeiteten Fassungen zugrunde, und das sind in der Regel die englischen Fassungen, die alle von den russischen Originalen abweichen, manche wenig, manche sehr stark. Die Ausnahme bildet «Lolita», die aus offensichtlichen Gründen nicht aus der russischen Fassung übersetzt wurde. Die deutsche Ausgabe beruht also auf den endgültigen Texten, die Nabokov selber einem nichtrussischen Publikum zugedacht hatte.

               Die anderssprachigen Versionen werden aber ebenfalls berücksichtigt. Es existiert eine ausführliche britische Monographie, die russische und englische Texte miteinander vergleicht. Aber damit nicht genug. Eine deutsche Slawistin vergleicht für die Ausgabe diese Romane Wort für Wort, und alle substantielleren Abweichungen werden in den Anhängen vermerkt. So ist der deutsche Leser der einzige auf der Welt, der in einem einzigen Band nicht nur die letzte und ausführlichste Fassung von «Erinnerung, sprich» erhält, sondern neben anderem zusätzlichen Material auch alle Stellen, die Nabokov für seine russischen Leser hinzugeschrieben und für die englischen dann wieder gestrichen oder umgeschrieben hat.

Ein Kritiker hat beanstandet, daß der deutsche Leser eine Vorstellung nur von der semantischen Ebene dieser Textmetamorphosen erhalte. Natürlich. Wollte man mehr, so müßte man den russischen, englischen, französischen Wortlaut dieser Stellen mitliefern, und da es viele Stellen sind, liefe es praktisch auf eine dreisprachige Ausgabe hinaus. Komparatisten also kann es diese Ausgabe nicht ersparen, zu den Originalen zu greifen. Aber der poetologisch interessierte Leser findet in der Ausgabe eine Menge Material, an dem er studieren kann, wie ein Autor bei der Arbeit an seinen Texten vorging, der eigentlich keine neugierigen Blicke in seine Werkstatt erlaubte und immer nur fertige Texte in die Öffentlichkeit entließ. Er kann also Teile des Schaffensprozesses verfolgen. Und der Leser, der sich einfach für ein bestimmtes Buch von Nabokov interessiert, bekommt zu dem Text alle möglichen Addenda und Varianten. Er kann daraus zum Beispiel erfahren, wie verschieden sich Nabokov über einen seiner Brüder geäußert hat oder daß Humbert Lolita dreimal am Tag zum Geschlechtsverkehr zwang, ein Umstand, der nur in der russischen Fassung von «Lolita» erwähnt ist.

               Die zweite große Schwierigkeit der Edition sind natürlich die Übersetzungen. Nabokov selber hat immer auf sinngetreuen Übersetzungen bestanden; freie Übersetzungen, die den Autor korrigieren oder den «Geist» eines Buches einzufangen vorgeben, sich aber über dessen Worte hinwegsetzen, waren ihm ein Greuel; in einem Fall ließ er eine solche freie Übersetzung, es war eine schwedische, vom Verlag unter anwaltlicher Aufsicht verbrennen.

Als jemand, der über viele Jahre hin selber übersetzt hat, weiß ich, was für ein höchst approximatives Geschäft das Übersetzen ist. Fast nie kommt man an den Punkt, wo man guten Gewissens sagen kann: So und nur so kann dieser Satz in der Zielsprache lauten; meist gäbe es auch andere Lösungen, für die sich das eine oder das andere vorbringen ließe. Weder will ich anderen Übersetzungen meine persönlichen Eigenarten aufzwingen, noch möchte ich mich über Kollegen lustig machen. Ich werde also jetzt auch keine Fehlübersetzungen aufzählen, auf die ich bei der Editionsarbeit reichlich gestoßen bin; im übrigen wären ein paar Beispiele zwar vielleicht recht amüsant, in größerer Zahl aber würde es sterbenslangweilig. Ich will nur ganz allgemein sagen, daß ich immer wieder aufs neue überrascht bin, wie viele pure Fehler − keine stilistischen Nuancen, sondern grobe lexikalische Irrtümer − sich selbst in Übersetzungen finden, die einen durchaus vertrauenerweckenden Eindruck machen. Um es nun doch an wenigstens einem anonymen Beispiel zu illustrieren: An einer Stelle sieht eine Romanfigur die Motorhaube eines Sportwagens unter einer Garagentür hervorragen, und da er ein belesener Mensch ist und es sich um das Auto des sexuellen Rivalen handelt, findet er, seine Frontpartie sehe aus wie ein cod-piece. Shakespeare-Leser kennen das Wort, es steht auch in jedem größeren Wörterbuch. Ein cod-piece ist ein Hosenbeutel. Die deutschen Übersetzer haben es jedoch für etwas gehalten, das es schon grammatisch nicht sein könnte, und «ein Stück Kabeljau» hingeschrieben. Eine Motorhaube sah also wie ein Stück Kabeljau unter einer Garagentür hervor. Was mich an einer solchen Stelle bedrückt, ist nicht, daß da ein Übersetzer − in diesem Fall eine ganze Übersetzerschar − drei Buchstaben mißverstanden und ein Bild verdorben hat, auch wenn es schade darum ist. Mich bedrückt, daß jemand so etwas hinschreibt, ohne sich zu fragen, wie denn ein Stück Kabeljau aussähe, das unter einer Garagentür hervorschaut; daß also ein Übersetzer bereit ist, seinen Autor für dumm zu verkaufen, und dann gar einen Autor wie Nabokov, dessen Prosa sich unter anderem durch die große Präzision ihrer Beschreibungen auszeichnet.

               Der Herausgeber ist dann also notgedrungen jemand, der sich mit Schabern, Tinkturen und Läppchen ausrüsten muß, um unter einer trüben Schicht von sprachlichem Unfug wenigstens einen Abglanz des gestochen scharfen Urtextes sichtbar zu machen.

               Hin und wieder werde ich gefragt, ob Nabokov eigentlich schwer zu übersetzen ist, und es herrscht Verwunderung, wenn ich nicht rundheraus ja sage.

Natürlich, leicht ist es nicht. Nabokovs Wortschatz war überaus reich und wurde durch systematisches Wörterbuchstudium ständig erweitert. Die vielen Spezialbegriffe besonders aus Botanik, Entomologie oder Heraldik und die vielen genauen Beschreibungen von Oberflächenbeschaffenheiten und Lichtverhältnissen lassen sich nicht durch noch so einfühlsames Nachdenken und auch nicht durch einen Blick ins Wörterbuch auf dem Regal nebenan wiedergeben, sondern setzen die Suche in Spezialbibliotheken voraus. Nabokovs Bilder sind höchst eigen und dürfen nicht durch das nächstliegende Klischee verkleistert werden, und dazu muß man zunächst einmal erkennen, was konventionelles Sprechen ist und was idiosynkratisches. Und es ist auch nicht eben leicht, eine ganze Passage auf die typisch Nabokovsche Weise auf der Kippe zwischen Ernst und Komik, zwischen poetischem Aufschwung und antipoetischem Abschwung, zwischen Feierlichem und Barschem, Pathos und Bathos entlangzusteuern.

 Aber trotzdem ist Nabokov auch leicht zu übersetzen. Er ist leicht zu übersetzen, weil er sich eine persönliche, fast künstlich zu nennende Literatursprache geschaffen hat, die nicht sozial, regional und historisch gebunden ist, den Übersetzer also beispielsweise auch nicht vor die unlösbare Aufgabe stellt, einen Satz von seiner Umgebung sprachlich so abzuheben, daß der deutsche Leser merkt: so kann ihn nur ein irischer Proletarier um 1900 gesagt haben. Und Nabokov ist leicht zu übersetzen, weil er ein so genauer Schriftsteller ist, bei dem jeder Satz bis in seine hintersten Winkel von Anschauung, von Gefühl, von Verstand erfüllt ist. Schlechte Schriftsteller, die sich bei ihren Sätzen nichts weiter denken, so daß es in ihnen drunter und drüber geht, sind für den Übersetzer eine Qual. Einen guten Schriftsteller zu übersetzen, ist dagegen ein großer Genuß, der einen für die Mühe entschädigt. Nabokov ist ein sehr guter Schriftsteller.

 

Der Text, den Herr Buchwald jetzt lesen wird, ist ein Gedicht, 1945 auf englisch geschrieben. Ich habe es aus mehreren Gründen gewählt. Erstens wurde es bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt. Zweitens handelt es von einer Veranstaltung, die einige Ähnlichkeiten mit dieser hier hat, nämlich einem literarischen Vortragsabend; in der Zeit, als Nabokov Professor für russische Literatur an amerikanischen Universitäten war, hat er selber Vorträge dieser Art gehalten, bei denen er einem bemühten, aber ahnungslosen Publikum seinen eigenen kulturellen Hintergrund zu erklären versucht hat. Drittens ist das Thema jenes Vortragsabends eine der großen Schmerzen, die Nabokov sein Leben lang nicht losgelassen haben: die Sehnsucht nach Rußland und besonders nach der russischen Sprache, die er verlassen mußte. Im Original ist das Gedicht gereimt. Nabokov hatte etwas gegen gereimte Nachdichtungen, die notwendigerweise auf Schritt und Tritt den Sinn verraten. Die deutsche Fassung ist darum ungereimt und nur unregelmäßig rhythmisiert. Also: «Ein Abend mit russischer Lyrik», irgendwo in einer College-Stadt im amerikanischen Osten, da im Publikum lauter Mädchen sitzen, tippe ich auf Wellesley, 1945. Dann wollen wir uns noch ein Fernsehinterview mit Nabokov ansehen. Sein Text steht auch in dem Band «Deutliche Worte». Sie werden sehen, daß Nabokov alle seine Antworten abliest. Das war immer so. Anfang der sechziger Jahre, nach der «Lolita», stand er plötzlich vor der Notwendigkeit, sich mit seinem Ruhm einzurichten und also auch hin und wieder neugierigen Reporterfragen zu stellen. Ein paarmal tat er es auf die normale Weise. Dann aber ärgerte es ihn immer wieder, daß seine Antworten verzerrt oder falsch wiedergegeben wurden oder daß ihm die Interviewer private Bemerkungen abgeluchst hatten, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen waren und dann doch gedruckt wurden. So machte er es zu einer eisernen Regel, daß alle Interviewer ihre Fragen ein paar Wochen vorher schriftlich einreichen und sich verpflichten mußten, seine schriftlichen Antworten wörtlich abzudrucken. Bei Funk- und Fernsehinterviews las er die vorbereiteten Antworten ab, spielte also vor Mikrofon und Kamera für alle sichtbar eine Rolle, die des leutseligen Autors, der Rede und Antwort steht. Er selber entschuldigte sich immer damit, daß er ein miserabler Sprecher wäre. Das war er nicht. Seine Interviewtechnik war eine aus dem Mißtrauen geborene Vorsichtsmaßnahme. Wie in seinen Büchern wollte er nichts dem Zufall überlassen, wollte er alle seine Worte unter Kontrolle behalten. Ein Druckfehler konnte ihn unglücklich machen, und bei Interviews wären die Möglichkeiten, sich selber in dem veröffentlichten Text nicht mehr wiederzuerkennen, noch sehr viel größer gewesen. Es spielt also Vladimir Nabokov einen für die Öffentlichkeit stilisierten Autor gleichen Namens.

 

»Startseite