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DIE ZEIT/Wissen, Nr.17, 16.April 1998, S.33

Titel: «Das Erbe im Kopf»

Manuskriptfassung

© 1998 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

IQ Revisited, 1998

I

Die Erblichkeit der gemessenen Intelligenz

Von Dieter E. Zimmer

  

ES WAR EINMAL und ist erst ein Vierteljahrhundert her, daß sich die Menschen leichter als heute in die Guten, die Fortschrittlichen, und die Bösen, die Reaktionäre, scheiden ließen. Einer dieser Lackmustests war eine Frage, die eigentlich gar keine ideologische sein sollte, sondern eine empirische: Meinst du, daß das, was die Intelligenztests messen, der IQ also, erblich ist? Wer Ja antwortete, konnte nur ein Reaktionär sein, ein übler Biologist, gar ein Faschist. Die wenigen Professoren, die damals laut Ja sagten und dies Ja mit empirischem Material untermauerten, wurden geschmäht, bedroht, geächtet. Wenn es je ein Tabu gab: dies war eins.

Der Pulverdampf von damals hat sich verzogen. Nur noch manchmal kommt es zu Scharmützeln alten Stils, nämlich immer dann, wenn es nicht um individuelle IQ-Unterschiede geht, sondern um die unterschiedlichen Durchschnitts-IQs einzelner Menschengruppen. Sonst herrscht Ruhe an dieser Front. Ist die Sache also entschieden?

 Ja, im wesentlichen ist sie es – aber anders, als weite Teile der Öffentlichkeit bis heute meinen. Daß die Menschen unterschiedlich intelligent sind, und das womöglich von Natur aus, galt im privaten Alltag immer als bare Selbstverständlichkeit. Dies ausdrücklich zuzugeben, scheint aber vielen arg zu widerstreben – denn das stellte den quasi offiziellen Egalitätsglauben in Frage, welcher will, daß alle Unterschiede soziale Ursachen haben und durch soziale Veränderungen zu beheben wären. Es zwänge, manche sozialen Fragen neu zu durchdenken, die explizit oder implizit auf dem Egalitätsglauben beruhen.

Unter den zuständigen Wissenschaftlern nimmt sich die Frage viel weniger ungeklärt aus als in der Öffentlichkeit. Schon vor zehn Jahren machten ein Psychologe und ein Politologe, Mark Snyderman und Stanley Rothman, eine aufschlußreiche Doppelaufnahme: Bei 661 amerikanischen Psychologen und Pädagogen erfragten sie die Expertenmeinung zum IQ und seiner Erblichkeit; gleichzeitig eruierten sie die veröffentliche Meinung zum gleichen Thema. Während in den Medien alle Erblichkeitsberechnungen überwiegend als zweifelhaft bis unsinnig  hingestellt wurden, waren 94 Prozent der Experten überzeugt, daß es massive Beweise für eine beträchtliche Erblichkeit gibt. Was in den Medien immer noch als verdächtige Phantasterei galt – die Experten betrachteten es nahezu unisono als Faktum.

Als dann 1994 die Medien und auch viele Experten über die dubiosen politischen Folgerungen in Herrnstein/Murrays Buch The Bell Curve herfielen, setzte der amerikanische Psychologenverband APA einen elfköpfigen Ausschuß unter der Leitung des hochangesehenen Ulric Neisser ein, um zu rekapitulieren, was wissenschaftlich in der IQ-Frage nun eigentlich Sache sei. 1996 lag sein Bericht vor. Der lakonische Schluß stand nicht im Konjunktiv, und er wurde in keinem der 1997 publizierten Kollegenkommentare  bestritten: «Über alle normalen Umwelten in den modernen westlichen Gesellschaften hinweg hängt die Variation der Intelligenztestergebnisse zu einem beträchtlichen Teil mit individuellen genetischen Unterschieden zusammen.» Der Bericht nennt auch eine Zahl für diesen genetischen Beitrag, jene, auf die seit Anfang der 1980er Jahre alle Kalkulationen hinausgelaufen waren: 0,5. 

    

Was bedeutet sie? Die «Erblichkeit» der quantitaiven Genetik ist nicht, was sich die meisten darunter vorstellen. Eine Erblichkeit von 0,5 heißt keineswegs, daß der Mensch die Hälfte seines IQs dem Schicksal der Gene verdankt und die andere Hälfte der Gnade der Umwelt. «Erblichkeit» ist ein statistischer Wert, der sich überhaupt nicht auf das Individuum bezieht, sondern auf eine Gruppe von Menschen – nämlich auf die in einer bestimmten Population gemessenen Unterschiede. Individuell ist beides sozusagen zu 100 Prozent vonnöten, eine genetische Anlage und eine Umwelt, in der sie sich entfalten kann. Eine Erblichkeit von 0,5 besagt vielmehr: Die in der Population X gemessenen Unterschiede beim Merkmal Y (sei es die Körpergröße, die Haarfarbe oder der IQ) gehen zu 50 Prozent auf unterschiedliche Gene zurück; die andere Hälfte beruht auf nichtgenetischen Faktoren, vom Milieu im Mutterleib bis zum Lebensstandard, die gewöhnlich unter dem Allerweltswort «Umwelt» zusammengefaßt werden.

Die Erblichkeit ist also keine Naturkonstante, der man durch genauere Messungen immer näher käme. Sie ist ein empirischer Wert, der für jede untersuchte Gruppe anders ausfallen könnte, tatsächlich aber in einem recht engen Bereich zu liegen scheint.

Sie ist ein relativer Wert. Eine Erbvarianz gibt es nur, wo es eine Umweltvarianz gibt; beide zusammen ergeben immer 100. Für die absolute Höhe irgendeines Beitrags zur Intelligenz gibt es kein Maß, wie sich überhaupt die Intelligenz nicht absolut messen lässt, nur im Verhältnis zur durchschnittlichen Intelligenz, die bei den IQ-Tests aus rein praktischen Gründen für jedes Land und jede Generation mit 100 festgesetzt wird.

Eine hohe Erblichkeit bedeutet auch nicht, daß das betreffende Merkmal prinzipiell unabänderlich ist, sondern nur, daß sich für einen Großteil der Unterschiede nicht die Unterschiedlichkeit der Lebensbedingungen verantwortlich machen läßt. Erblich im engen Sinne heißt noch nicht einmal: jedem Lernen entzogen. Der Umfang des Wortschatzes, den einer sein eigen nennt, ist weitgehend erblich; trotzdem muß natürlich jedes Wort gelernt werden. Jede Anlage braucht eine Umwelt.

Einige Studien ergaben irritierenderweise eine wesentlich höhere Erblichkeit. Warum, wurde erst in den letzten Jahren klar. Die allermeisten IQ-Tests, auf denen die Erblichkeitsberechnungen beruhten, wurden jungen Leuten gegeben, Schülern, Studenten, Rekruten. Die höhere Erblichkeit (0,6 bis 0,8) fand sich bei älteren Testgruppen. Mit dem Alter sinkt der IQ leicht ab. Aber entgegen allem, was man erwarten würde, nimmt seine Erblichkeit mit steigendem Alter nicht ab, sondern zu. Offenbar führen die «Pfeil’ und Schleudern des wütenden Geschicks», die einem jeden im Laufe seines Lebens zusetzen, gerade nicht zu einer Erhöhung der umweltbedingten Varianz. Im Gegenteil, jeder sucht sich offenbar spätestens mit dem Erwachsenwerden nach Möglichkeit genau jene Umweltbedingungen, die seiner genetischen Anlage die freieste Entfaltung lassen. «Die Erblichkeit steigt in Umwelten, die den vollen Ausdruck des Genotyps erlauben, und nimmt in restriktiven Umwelten ab» (H.H. Goldsmith).

    

In der Jugend 0,5 und später mehr – ist das viel oder wenig? Klar ist, daß bei den IQ-Unterschieden die Erbanlage nicht alles ist; irgend etwas in den üblichen «Umwelten» der industrialisierten Welt hat ein gewichtiges Wort mitzureden. Insofern hätten beide Seiten recht bekommen, die «Biologisten» wie die «Kulturisten». Aber zu früh frohlocken sollten diese nicht.

Während nämlich die nichtgenetische Varianz (so heißt in der Fachsprache das Ausmaß der Streuung um einen Mittelwert) beim IQ auf eine Vielzahl unterschiedlicher Umweltfaktoren zurückgeht, von denen viele bisher nicht erkannt oder auch nur erahnt wurden, sind die 50 genetisch zu erklärenden Varianzprozente ein ziemlich dicker Brocken – mit Abstand der größte einzelne Faktor, der die IQ-Unterschiede mitbestimmt. Und während jede Erblichkeitsberechnung ihrem Wesen nach immer auch eine Berechnung sozusagen der «Umweltlichkeit» ist, die Verhaltensgenetiker also nie Probleme hatten, den signifikanten Beitrag der Umwelt anzuerkennen, schauderte das rabiate Umweltlager vor jedem Gedanken zurück, daß die Gene, also die Biologie, bei Dingen wie der Intelligenz und anderen mentalen Eigenschaften irgendein Wort mitzureden haben sollten. Dieser Schauder: er ist obsolet.

Die Zeit sei reif für eine «moderne Synthese», schrieb der renommierte Entwicklungspsychologe Jerome Kagan: «Die unterschiedlichen Kognitions-, Verhaltens- und Gefühlsprofile des Menschen sind das Resultat einer Verbindung biologischer Variation mit Sequenzen von Umwelterfahrungen.»

In den Zeiten der IQ-Kriege brachte die Zumutung seiner Erblichkeit den IQ in Verruf. Die Folge war, daß der praktische Einsatz von IQ-Tests – möglicherweise zu Recht – stark zurückging. Sie mögen ja etwas messen, hieß es damals, aber es ist nichts von Belang. Wenn der IQ aber nichts von Bedeutung maß oder gar ein «Fehlmaß» (Stephen Jay Gould) war, brauchte einen auch seine Erblichkeit nicht zu beunruhigen.

Ob es Intelligenz ist, was er in einer Zahl ausdrückt, ist heute so unklar wie damals – schon darum, weil jeder frei ist, sich unter Intelligenz vorzustellen, was ihm beliebt. Und deren neurophysiologisches Substrat kennt man auch heute noch nicht viel genauer. Fakt ist jedoch heute wie damals: Sofern sie irgendeine Art von komplexer denkerischer Tätigkeit verlangen, korrelieren alle Testaufgaben, die sich die Psychologen auszudenken imstande waren – wer bei der einen Art gut abschneidet, wird wahrscheinlich bei der anderen nicht versagen. Es ist, als läge allem Denken ein gemeinsamer Faktor zugrunde (auch g genannt, für general intelligence), auf den die spezielleren Intelligenzen aufbauen. Vielleicht ist dieser g-Faktor nur ein Kunstprodukt der Tests; vielleicht aber gibt es wirklich eine einheitliche denkerische Basisfähigkeit des Gehirns, und vielleicht hängt sie mit dessen innerer Verarbeitungsgeschwindigkeit zusammen – bis dato offene Fragen.

Es ist jedoch ein Mißverständnis, daß die Naturwissenschaften nur Phänomene untersuchen könnten, die erklärt und definiert sind. Isaac Newton konnte 1689 das Gesetz der Schwerkraft in mathematische Formeln fassen, obwohl zu der Zeit kein Mensch die mindeste Ahnung hatte, was Schwerkraft eigentlich ist. Eine Definition mag sich erst ganz am Ende finden. Es gibt unzählige Intelligenztheorien, und die große einheitliche Theorie steht einstweilen aus. Aber wie man auch nennen will, was die IQ-Tests messen – sie messen etwas Reales, das steht fest, denn die Meßwerte sind von einer in der Psychometrik wundersam raren Stabilität, und zudem besitzen sie heute wie damals, weswegen die IQ-Tests Anfang des Jahrhunderts ersonnen wurden, nämlich Vorhersagekraft. Die Korrelation zwischen IQ und Schulleistung beträgt schätzungsweise etwa 0,55.[1] Daraus folgt, daß der IQ Leistungsunterschiede und die Länge der Schullaufbahn zu 30 Prozent vorhersagt. Auch noch etwa 25 Prozent der Varianz beim Berufserfolg werden von ihm erklärt. Das heißt einerseits, daß zum Erfolg in Schule und Beruf viel mehr gehört als ein hoher IQ, andererseits aber auch, daß der IQ der stärkste einzelne Prädiktor für ihn ist – und daß ein ausreichend hoher IQ wie ein Filter wirkt und man in viele Berufe eben nicht ohne ihn Einlass findet.

Schließlich die Frage, ob IQ-Tests die Intelligenz messen und was diese eigentlich sei. Wie Snyderman/Rothman in ihrem Buch zeigten, verunsichert sie die Experten viel weniger als die Öffentlichkeit. Fast einhellig waren die Experten der Ansicht, daß die Tests recht gute Meßinstrumente für abstraktes Denken, Problemlösungs- und Lernfähigkeit sind, aber nicht für Dinge wie Kreativität, Leistungsmotivation oder Wahrnehmungsschärfe. Wie weit eine Definition der Intelligenz greifen sollte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Was ihren Kern ausmacht, darüber jedoch herrscht nahezu Konsens.

Die Gene haben sich inzwischen einen gewissen besorgten Respekt verschafft. Es war auch voreilig, den IQ in den Orkus zu schicken, genauso voreilig wie vordem seine Vergötzung. Er hat seine Hinrichtungen heil überstanden.

 Literaturnachweise am Ende von Teil III


 


[1] Anmerkung 2010: Aus dem Korrelationskoeffizienten lässt sich mathematisch ableiten, in welchem Maß ein Merkmal für ein anderes verantwortlich gemacht werden kann, das von ihm mutmaßlich abhängig ist. Dazu multipliziert man den Korrelationskoeffizienten mit sich selber und das Ergebnis mit 100. Dann erhält man eine Prozentzahl. Daß IQ und Schulleistung mit 0,55 miteinander korrelieren, besagt also, daß die bei den Schulleistungen beobachteten Unterschiede zu rund 30 Prozent (0,55×0,55×100) auf Unterschiede im IQ zurückzuführen sind und die übrigen 70 Prozent der Unterschiede auf andere Ursachen zurückgehen müssen. 0,55 – das war 1998 eine verhältnismäßig niedrige Korrelation. In meiner IQ-Serie von 1974 hatte ich eine höhere genannt, nämlich 0,7 (die also knapp 50 Prozent der Varianz aufklärt). Die für den Zusammenhang von IQ und Schulerfolg ermittelten Korrelationen gingen in einzelnen Studien nämlich immer beträchtlich auseinander. Einzelne Erhebungen fielen teils niedriger, teils höher aus – wenn nämlich näher gefragt wurde: "Schulerfolg" worin? Bei den Zensuren? Bei der Einschätzung durch Lehrerinnen und Lehrer? Am Anfang oder am Ende der Schullaufbahn oder mittendrin? Niedriger war die Korrelation unter anderem beim Notendurchschnitt in den Gymnasialklassen 5 bis 10 (0,43), höher unter anderem bei den schriftlichen Leistungen in der Muttersprache (0,76), bei den Lehrerempfehlungen für das Gymnasium (0,73) und in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern (0,46 bis 0,77). Die Korrelation zwischen IQ und dem höchsten Bildungsstand, den einer in den 40 ersten Lebensjahren erreicht, liegt zwischen 0,5 und 0,58. Eine generelle Zahl für den "Schulerfolg" lässt sich heute darum nicht mehr nennen. Übrig bleibt nur, dass der IQ nach wie vor der größte einzelne Prädiktor für alle Arten von Schulerfolgen ist. In seinem Buch Intelligenz – Fakten und Mythen (Weinheim: Beltz, 2009) zog der Marburger Psychologe Detlef H. Rost dies Resümee: "Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die vielen unterschiedlichen Studien zu Korrelationen zwischen Intelligenz und Schul- bzw. Studienleistungen sowie Trainingserfolg dahingehend konvergierten, dass eine (messfehlerbereinigte) Beziehung von r = .70 [das heißt einem Korrelationskoeffizienten von 0,7] nur ausnahmsweise überschritten wurde. Das heißt, dass 'nur' maximal 50% der Varianz in akademischen Leistungen und Trainingserfolgen durch Testverfahren aufgeklärt wurde, also noch nennenswerte Leistungsvarianzanteile auf andere Quellen wie Persönlichkeitsvariablen im engeren Sinn wie Gewissenhaftigkeit und Offenheit für Erfahrungen oder Lerneinstellungen zurückgeführt werden können. Im Wettlauf mit der Motivation war für die Vorhersage von Schulleistungen der IQ mit weitem Abstand prädiktiver …"

 

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