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DIE ZEIT/Wissen, Nr.18, 23.April 1998, S.37

Titel: «Waren unsere Vorfahren dümmer?»

Manuskriptfassung

© 1998 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

  

 

 

IQ Revisited, 1998

II

Der Flynn-Effekt

Von Dieter E. Zimmer

 

EINS DER unheimlichsten Merkmale des IQ ist seine individuelle Beständigkeit; ohne sie hätte sich die Psychologie auch kaum nun fast ein Jahrhundert lang mit ihm abgegeben. Was hätte sie mit einer Meßlatte anfangen sollen, die bald den, bald jenen Wert anzeigte? Bis zum achten Lebensjahr kommen stärkere Schwankungen im IQ vor; danach aber scheint er wie zementiert. Eine schlechte Tagesform mag die Testperson ein paar Punkte kosten, aber über ihren Höchstwert kommt sie auch bei bester Form und größter Anstrengung nicht hinaus.

Über dieser erstaunlichen Beständigkeit individueller Testergebnisse wurde lange eine ebenso erstaunliche Unbeständigkeit übersehen: daß die IQs zumindest in den Industriestaaten stetig steigen. Jede Generation scheint intelligenter als die vorige: um 15 IQ-Punkte in zwanzig Jahren. Es ist eins der großen Rätsel der Psychologie.

Aufmerksam auf das Phänomen wurde man schon in den dreißiger Jahren. Irgendwie schienen alte Tests nicht mehr richtig zu passen. Jeder Test wird ja vor seiner Einführung standardisiert: das heißt, seine Aufgaben werden so gewählt, daß sie in möglichst gleich großen Schritten schwieriger werden, und dann werden sie an einer möglichst repräsentativen Gruppe ausprobiert. Das Mittelergebnis wird dann gleich 100 gesetzt. So erreicht die glockenförmige Verteilungskurve immer bei einem IQ von 100 ihren Gipfel; von dort aus fällt sie nach beiden Seiten symmetrisch ab, um an den Enden flach auszulaufen – das bekannte Bild bei jeder Normalverteilung. Wurden nun Spätergeborene einem älteren Test unterzogen, so lag ihr Mittel nicht mehr bei 100, sondern einige Punkte darüber. Die Tests mußten neu standardisiert werden – sie wurden schwieriger gemacht, bis das Mittel wieder auf 100 fiel.

Aber erst Anfang der achtziger Jahre kam ein neuseeländischer Politologe auf die Idee, dem bis dahin nur kuriosen Phänomen systematisch nachzugehen. Seitdem heißt es nach ihm: Flynn-Effekt. James R. Flynn beschaffte sich aus der ganzen Welt alle erreichbaren Testdaten, die Aufschluß gaben, wie spätere Jahrgänge bei einem früher standardisierten und seitdem unverändert gebliebenen Test abschnitten. Er fand solche Daten in zwanzig Industriestaaten. Als die stichhaltigsten erwiesen sich jene aus den Niederlanden, Belgien und Norwegen, wo über längere Zeiträume hin jeder Geburtsjahrgang bei der Musterung fürs Militär rundum durchgecheckt worden war, unter anderem mit immer denselben IQ-Tests.

Was Flynn und dann auch viele andere verblüffte, war nicht so sehr, daß es einen Anstieg gab und daß er universell war, sondern die Steilheit dieses Anstiegs: sieben IQ-Punkte pro Jahrzehnt. Die Glockenkurve ist beidseits des Mittelwerts in je drei sogenannte Standardabweichungen eingeteilt, eins der Maße für die Streuung statistischer Werte. Eine Standardabweichung beträgt beim IQ 15 Punkte. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung rangieren innerhalb der ersten Standardabweichung links und rechts von 100, haben also einen IQ zwischen 85 und 115; die äußeren Standardabweichungen sind wesentlich dünner besetzt. Sieben Punkte in zehn Jahren: das heißt, daß sich in nur zwanzig Jahren der IQ um fast eine volle Standardabweichung nach rechts verschoben hätte – ein höherer Mittelwert, aber auch eine wundersame Vermehrung der Hochintelligenten bei einer entsprechenden Verminderung der Intelligenzschwachen.

Ebenso verblüffend war die Dauerhaftigkeit dieses steilen Anstieg. Am sichersten nachgewiesen ist er zwischen 1952 und 1982. Aber er scheint bis heute nicht nachgelassen zu haben, und in einem Fall konnte Flynn seinen Beginn aufgrund günstiger statistischer Umstände auf etwa das Jahr 1890 zurückverfolgen. Der IQ scheint etwa im gleichen Ausmaß nachzuvollziehen, was beim Größenwachstum «säkularer Trend» genannt wird: daß die Menschen mit jeder Generation größer werden.

Und da muß auch der Glaubenswilligste in Streik treten. Daß die Kinder immer ein wenig intelligenter sind als die eigene Generation, wird man noch widerwillig akzeptieren – es ist ihnen, so tröstet man sich, ja auch in vieler Hinsicht immer besser gegangen. Aber Stärke und Dauer des säkularen Anstiegs würden bedeuten, daß die Generation unserer jeweiligen Großeltern überwiegend im Bereich dessen angesiedelt war, was früher unzart Schwachsinn hieß; und daß heute lauter Intelligenzbestien herumlaufen – und dergleichen hätte ja wohl auffallen müssen. Nicht nur aber, daß niemand eine entsprechende Verkopfung der Menschheit bemerkt hat: Zumindest in Amerika ist während des IQ-Anstiegs die vielen Highschool-Absolventen ebenfalls abgeprüfte Studierfähigkeit nachgewiesenermaßen im gleichen Maß gesunken; auch scheinen vielerorts die sprachlichen Leistungen zurückgegangen zu sein. Die Menschen müßten also nicht nur immer intelligenter geworden sein, sondern gleichzeitig immer unfähiger, ihre wachsende Intelligenz anzuwenden. Irgend etwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu. Aber was?

Einige mögliche Ursachen des Flynn-Effekts hat Flynn gleich selber widerlegt. Genetische Gründe kann der Anstieg nicht haben: Selbst wenn die Erblichkeit des IQ höher wäre, als sie es ist, ginge eine Veränderung des Genpools ungleich langsamer vonstatten. Also müssen die Ursachen in Veränderungen der Umwelt gesucht werden.

Ist vielleicht die Zahl der Minderintelligenten zurückgegangen, also quasi das untere Ende der Verteilungskurve angehoben worden? Nein – die Varianz (ein anderes Maß für die Streuung eines Meßwerts) ist bis auf eine Ausnahme (Dänemark) gleich geblieben.

Liegt es am gewandelten Erziehungsstil oder schlicht der Verkleinerung der Familien, die immer mehr Intelligenz aus den Kindern herauskitzelt haben? Es kann nicht sein, denn die größten bleibenden IQ-Gewinne, die systematische geistige Stimulierung je hervorgebracht hat, betrugen fünf Punkte. (Jenes Abecedarian-Programm in North Carolina setzte ungewöhnlich früh, nämlich schon im fünften Lebensmonat ein und hielt bis zum Vorschulter an.)

Oder der steigende Lebensstandard? Im holländischen Fall erklärt er gerade 3 Punkte von 20, die zu erklären wären.

Oder war es die längere und höhere durchschnittliche Schulbildung? In der Tat gibt es da eine nicht unerhebliche Korrelation. Aber der säkulare Anstieg erstreckt sich gleichmäßig auf alle Bildungsniveaus, auch die unteren, bei denen die Schuldauer früher die gleiche war wie heute.

Oder sind die Schulen pädagogisch so viel besser geworden? Vielleicht sind sie es  – aber warum beklagen wir dann eine Bildungskatastrophe nach der anderen? Alles nur optische Täuschung?

Oder prüfen die Tests bloß ab, was die Leute gelernt haben, und es wurde immer mehr gelernt? Auch falsch. Den größten Zugewinn gab es gerade bei den nichtsprachlichen Tests, die keinerlei Wissen verlangten.

Oder schlicht die zunehmende Erfahrung mit solchen Tests? Ganz naive Probanden, die noch nie einen Psychotest mitgemacht haben, bleiben oft unter ihrem späteren Bestwert. Aber erstens dürfte es in den Jahrzehnten des am besten verbürgten Anstiegs kaum noch solche Naivlinge gegeben haben. Und zweitens bringt steigende Testerfahrung höchstens 5 bis 6 Punkte.

Eine ganz andere Ursache vermutete der nordirische Psychologe Richard Lynn. Der IQ-Anstieg sei nichts anderes als ein Nebenprodukt des säkularen Trends im Größenwachstum, das allgemein auf Verbesserungen der Ernährung zurückgeführt wird – größere Körper, größere Köpfe, größere Gehirne. Die Hypothese krankte nur daran, daß, wie von Lynn selber demonstriert, Gehirngröße und IQ nur schwach korrelieren.

Oder darf es etwas Ausgefalleneres sein? Das Verschwinden von Bleiwasserleitungen? (Blei und andere Gifte wirken intelligenzmindernd.) Ein steigender Testosteronspiegel, wie zur Zeit im Internet erörtert?

Publiziert in Nature, wurde die Theorie des schottischen Psychologen Chris Brand am bekanntesten. Er machte die größere «Permissivität» des Zeitalters verantwortlich, eine neue Lockerheit auch beim Lösen von Testaufgaben: Sie würden zunehmend einfach geraten, und diese Fixigkeit beschere zwar Fehler, aber noch mehr gute Punkte. Schade nur, daß der Anstieg auch bei Tests stattgefunden hat, bei denen keinerlei Zeitdruck herrschte.

Flynn selber meint, der nach ihm benannte Effekt sei allein im Wesen der IQ-Tests selber begründet: Sie mäßen eine enge und vom Leben abgehobene abstrakte Problemlösungskompetenz und nur sehr indirekt, was wir gemeinhin Intelligenz nennen. Was schon sein mag, aber das Rätsel nicht löst, denn es bleibt die Vorhersagevalidität dieser Tests: Die Kunst, jene abstrakten Probleme zu lösen, ist für den Schul- und Hochschulerfolg offenbar nicht belanglos.

Geradezu als Rettung aus einem hartnäckigen Dilemma erschien da vor kurzem eine neue Theorie von Ulric Neisser, Professor an der Cornell-Universität und einer der Doyens der kognitiven Psychologie. Ihm zufolge sind die Anstiege echt, aber so speziell, daß sie nicht groß auffallen konnten. Überraschenderweise hatten gerade die sprach- und «kulturfreien» (nämlich nicht nach Wissensinhalten fragenden) Tests die allerstärksten Anstiege zu verzeichnen. Es handele sich um eine Art von Bilderrätseln, sagt Neisser. Und wenn Kinder in diesem Jahrhundert einem immer stärker ausgesetzt waren, dann Bildern – in Form von Photos, Comics, Filmen, Fernsehen, Computerspielen, Verpackungen, Werbung. Alles das hätte uns immer mehr zu einseitigen Virtuosen der Bildanalyse gemacht. Darin sei tatsächlich jede Generation den Eltern voraus gewesen.

Soviel wissen wir denn: Nach dem Ausweis der IQ-Tests werden wir immer intelligenter, aber wir haben nicht viel davon.

 

PS 2010: Starke IQ-Anstiege, die man während einiger Jahre beobachtet, dürfen natürlich nicht auf die ganze Zeit des säkularen Trends extrapoliert werden, sonst käme man schnell auf astronomische IQ-Werte, die offensichtlich nirgends vorhanden sind. Dass wir nach den Maßstäben von 1890 heute einen mittleren IQ von 190 hätten (sechs Standardabweichungen à 15 Punkte über 100), wird niemand glauben wollen. Und wenn ein insgesamt wesentlich geringerer allgemeiner Anstieg auch real gewesen zu sein scheint: Irgendwo wird Schluss sein. Aus Großbritannien, Dänemark und Norwegen wird berichtet, dass der Anstieg zwischen 1990 und 1995 seinen Gipfel erreichte und der durchschnittliche IQ seither wieder sinkt.  

 Literaturnachweise am Ende von Teil III

 

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